Je unerfüllter die Sehnsucht, desto größer die Träume und Erwartungen – und die Fallhöhe, wenn das lang Ersehnte von der banalen Realität eingeholt wird. Davon handelt „Umrika“ im Kosmos des traditionellen Familienlebens in Indien.
Info
Umrika
Regie: Prashant Nair,
100 Min., Indien 2014/2015;
mit: Suraj Sharma, Tony Revolori, Smita Tambe
Verschenktes Potential
Das Thema transkontinentale Migration ist aktueller denn je zuvor: Der Film hätte das Potential, interessante und zutiefst berührende Einblicke zu eröffnen. Doch es wird verschenkt, da Regisseur Nair sprunghaft und ohne Rhythmus durch das Geschehen hetzt. Nur mit großer Mühe kann man der verschachtelten Handlung folgen und die Figuren einordnen – von Verständnis gar nicht zu reden.
Offizieller Filmtrailer
Endgültiger Abschied auf Ochsenkarren
In einem kleinen nordindischen Dorf zu Beginn der 1980er Jahre hat Udai (Prateik Babbar) das große Los gezogen. Ihm eröffnet sich die Chance, nach Amerika zu gehen: Der dubiose Schlepper Patel (Adil Hussain) will für ihn eine illegale Einreise organisieren. Als der junge Mann auf den Ochsenkarren steigt, der ihn in die nächste Stadt bringen wird, wissen alle, dass sein Abschied endgültig ist. Im Dorf gibt es weder Telefon noch Strom; Flugtickets sind für seine Verwandten unerschwinglich, und Udais Rückkehr gälte als Schande für seine Familie.
Sein kleiner Bruder Ramakant bleibt mit den Eltern in der Lehmhütte zurück; alle vermissen den älteren Sohn sehr. Er nimmt in allen Köpfen soviel Raum ein, dass der jüngere schier übersehen wird. Amerika hier, Amerika da – von nun an haben Ramakant und das ganze Dorf nur ein Thema: Umrika!
Seltsame Frauen, die Hosen tragen
Udais Briefe mit anschaulichen Beschreibungen und Bilder aus den Vereinigten Staaten werden für die Dörfler zum Fenster in die große, weite Welt und zum Quell allgemeiner Erheiterung: etwa Fotos von einem Wasserklosett, auf das man sich setzen kann; von einem Nagetier, das nach dem Wetter gefragt wird; oder von Frauen, die Hosen tragen.
Dieses Spiel mit Vorurteilen, Klischees und falschen Interpretationen gehört zu den stärksten Passagen des Films. Leider schneidet Regisseur Nair die Einstellungen so schnell hintereinander, dass vor allem Zuschauer, denen Indien fremd ist, kaum Zeit haben, Inhalt und Charme mancher Szene zu begreifen.
Mama soll stolz auf ihn sein
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films “Ein Junge namens Titli” – brillantes Kleingangster-Drama in Neu-Dehli von Kanu Behl
und hier einen Bericht über den Film "Life Of Pi – Schiffbruch mit Tiger (3D)" – spiritueller Survival-Blockbuster von Ang Lee mit Suraj Sharma
und hier einen Beitrag über den Film “Englisch für Anfänger” – pointierte Multikulti-Emanzipations-Komödie über eine Inderin in New York von Gauri Shinde.
Dabei erfährt Ramakant, dass alles auf einer großen Lüge beruht, was er bis dahin für unumstößlich hielt; sein vermeintlich heldenhafter Bruder ist eine tragische Figur. Dennoch bleibt für ihn Umrika die Verheißung einer besseren Zukunft: Dort will er trotz alledem sein Glück versuchen – seine Mutter soll stolz auf ihn sein.
Weder feelgood noch witzig
Eine andere Enttäuschung als die für seine Hauptfigur bereitet der Film seinem Publikum. Regisseur Nair gelingt es kaum, eine stringente Erzählung zu entwickeln; er überfrachtet sie mit allerlei Nebenaspekten. Das zwingt zu ständigem Rätselraten, was jede emotionale Bindung an die Figuren verhindert. Nairs Anliegen, die Gründe für Migration verständlich zu machen, verliert sich in Bildersalat.
Das größte Rätsel des Films bleibt allerdings, warum sein Verleih ihn als heiteres feelgood movie anpreist. Thema und Darstellung sind weder leicht noch witzig: Das Scheitern von Lebensträumen, für die Migranten große Opfer gebracht haben, ist tragische Realität – und zurzeit besonders präsent.