Patricio Guzmán

Der Perlmuttknopf – El Botón de Nácar

Historische Aufnahme der Selk´nam-Ureinwohner in Süd-Chile mit Körperbemalung, Anfang 20. Jahrhundert. Foto: Real Fiction
(Kinostart: 10.12.) Alles hängt mit allem zusammen: In der Inselwelt von Süd-Chile sucht Regisseur Guzmán nach Spuren der Ureinwohner und verschwundener Diktatur-Opfer. Sein kunstvoll komponierter Essay-Film verbindet Ästhetik und Erkenntnis fast perfekt.

Vergangenheit, die nicht vergehen will: Als im September 1973 General Pinochet gegen Chiles Präsidenten Allende putschte, wurde auch Filmemacher Patricio Guzmán interniert. Nach seiner Freilassung wanderte er aus; heute lebt er in Frankreich. Tausende Chilenen wurden vom Militärregime ermordet und beiseite geschafft; sie gelten bis heute offiziell als „verschwunden“.

 

Info

 

Der Perlmuttknopf -
El Botón de Nácar

 

Regie: Patricio Guzmán,

82 Min., Chile/ Spanien/ Frankreich 2015;

 

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Diese traumatischen Ereignisse prägen Guzmáns Werk bis heute. Seit seinem Dreiteiler „La Batalla de Chile“ („Die Schlacht um Chile“, 1975/9) kreisen seine Filme um das Schicksal der chilenischen desaparecidos, die niemals bestattet wurden. Dabei hat der Dokumentarfilmer im Lauf der Jahre seinen Erkundungshorizont auf große historische Zusammenhänge ausgeweitet.

 

Von Teleskopen zu Knochensplittern

 

In „Nostalgia de la luz – Heimweh nach den Sternen“ schlug er 2010 an Chiles Nordgrenze in der Atacama-Wüste, dem trockensten Ort der Erde, einen beeindruckenden Bogen von riesigen Teleskopen für Weltraum-Forschung zu Ruinen eines ehemaligen Folterlagers in der Nähe; dort suchten Angehörige nach Knochensplittern von einst verscharrten Regimeopfern.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Im größten Insel-Archipel der Welt

 

Mit seinem neuen Film „Der Perlmuttknopf“, der im Februar auf der Berlinale den Silbernen Bären für das beste Drehbuch erhielt, knüpft Guzmán daran an – am anderen Ende des 4300 Kilometer langen Landes: Im äußersten Süden filmt er eine faszinierend schöne Wasser-Welt. Hier scheinen unzählige, von Fjorden durchfurchte Inseln unter Packeis und Nebelschwaden mit dem Meer zu verschmelzen.

 

Diesmal macht der Regisseur das Wasser selbst zum Thema: als Grundlage alles Lebendigen, das unsere irdische Existenz mit dem Kosmos verbindet. Dafür reist Guzmán zu den letzten Angehörigen der nomadisch lebenden Völker, die einst mit ihren Kanus die Wasserstraßen und -arme von Westpatagonien befuhren – des größten Insel-Archipels der Welt mit einer Küstenlänge von insgesamt rund 74.000 Kilometern.

 

Himmelsmuster auf Körper malen

 

Sie mussten ab Ende des 19. Jahrhunderts europäischen Einwanderern weichen. Heute leben nur noch wenige vor Ort: Betagte Frauen und Männer, die Guzmán nach ihren Erinnerungen befragt. Dazu werden eindrucksvolle Schwarzweiß-Fotos vom Martin Gusinde eingeblendet. Der Priester aus Österreich lebte Anfang des 20. Jahrhunderts zwei Jahre lang auf Feuerland beim Volk der Selk’nam und hielt ihren Alltag fest: Sie malten sich etwa Himmelmuster auf ihre Körper, weil sie glaubten, nach dem Tod als Sterne weiter zu leben.

 

Ihr Land beschlagnahmten weiße Siedler für ihre Viehweiden; die Ureinwohner verelendeten und wurden nahezu ausgerottet. Ihre Lebensweise in Symbiose mit dem Meer ging durch die Expansion des chilenischen Nationalstaats zugrunde. So entstand das Paradox, dass die Kultur des Landes mit einer der längsten Meeresküsten des Globus sich fast ganz vom Ozean abwandte.

 

An Schienen gefesselte Körper abwerfen

 

Acht Jahrzehnte später musste der Pazifik wie die Atacama-Wüste als anonymes Massengrab zur diskreten Entsorgung der Opfer von staatlichem Terror herhalten. Dabei wurden Betäubte an Eisenbahnschienen gefesselt, von Hubschraubern hinausgeflogen und mitten über dem Meer abgeworfen. Die Kamera begleitet Taucher, die vom Meeresgrund schwere Stahlschienen bergen; sie sind mittlerweile durch Muscheln und Rost deformiert. Guzmán lässt sogar das Einpacken eines Körpers mit Planen, Tüten und Schienen nachstellen.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier einen kultiversum-Beitrag über die Doku "Nostalgia de la luz - Heimweh nach den Sternen" - Film-Essay über die Atacama-Wüste in Chile von Patricio Guzmán

 

und hier einen Bericht über den Film ¡No! – packendes Polit-Drama über das Ende der Diktatur unter Pinochet in Chile von Pablo Larraín

 

und hier einen Beitrag über den Film "Gloria" - hinreißendes Porträt einer 58-jährigen Chilenin von Sebastián Lelio, prämiert mit Silbernem Bären 2013.

 

Das grausige Experiment gelingt eindrucksvoll und ohne Sensationalismus. Auch sonst nutzt der erfahrene Regisseur für seinen dichten und vielschichtigen Essay-Film souverän verschiedene Methoden: Von seiner Erzählstimme im Off mit raffinierten Überblendungen über statements von Wissenschaftlern oder vom Dichter und Aktionskünstler Raúl Zurita bis zu experimentell-traditioneller Musik.

 

Chile als 15-Meter-Papierbahn

 

Die Dimensionen des Themas verdeutlicht eine maßstabsgetreue Karte Chiles, die eine Künstlerin aus einer 15 Meter langen Papierbahn angefertigt hat: Ihr Ausrollen auf dem Boden spiegelt das „Verpacken“ der Häftlinge. Damit vergegenwärtigt Guzmán problematische Aspekte der nationalen Geschichte, die nach Pinochets Abgang 1988 und der politischen Demokratisierung weitgehend verdrängt wurden.

 

Doch die kunstvoll komponierten Erzählstränge des Films gehen weit über regionale Fragen hinaus; so überzeugend, dass man ihm gern das etwas übertriebene Pathos des score verzeiht. Fast perfekt verbindet „Der Perlmuttknopf“ das Staunen über eine nahezu unberührte Natur mit praktischem Erkenntnisgewinn und dem Genuss der ästhetischen Konstruktion. Dabei kommt die titelgebende Kurzware übrigens doppelt vor: Am Ende verwandelt sich der Knopf in einen Stern.