Ein Tausendsassa im Dienst der Avantgarde: Der Pianist, Autor und Kritiker Herwarth Walden gab ab 1910 die Zeitschrift „Der Sturm“ heraus, eröffnete zwei Jahre später die gleichnamige Galerie, gründete in rascher Folge eine kurzlebige Kunstakademie, Theaterbühne und Buchhandlung, veranstaltete Bälle, Kabarett und Künstler-Abende – ein Meister der Synergie-Effekte, bevor es das Wort gab.
Info
Sturm-Frauen - Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910–1932
30.10.2015 - 07.02.2016
täglich außer montags
10 bis 19 Uhr,
mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr
in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt/ Main
Katalog 34 €,
Begleitheft 7,50 €
Lasker-Schüler tauft Lewin um
Der Mann mit dem bürgerlichen Namen Georg Lewin war zudem einer der ersten Galeristen, der Werke von Frauen ausstellte. Er wusste nur zu gut, dass Männer kein Privileg auf gute Ideen hatten: Sowohl sein Pseudonym Herwarth Walden als auch der Begriff „Der Sturm“ waren Einfälle seiner ersten Frau, der Künstlerin und Dichterin Else Lasker-Schüler. Dass viele weitere Frauen im Sturm-Umfeld Bemerkenswertes schufen, zeigt nun eine Ausstellung in der Schirn, die 18 Künstlerinnen vorstellt.
Feature über die Ausstellung; © Schirn
Nach Scheidung Schluss mit Ausstellungen
Nicht alle sind von zeitloser Originalität. Die artigen, dekorativen Blumen-Bilder von Nell Walden beschrieb ein Zeitgenosse schwärmerisch als „ganz fraulich, keine Männerimitation“. Dabei verdankte sie ihre Sturm-Präsenz wohl vor allem der Tatsache, dass sie Herwarth Waldens zweite Ehefrau war. Nach der Scheidung 1924 war es dann auch mit ihren Einzelausstellungen vorbei.
Ähnlich lassen die Werke von Magda Langenstraß-Uhlig, die an einer staatlichen Kunsthochschule studiert hatte, eine eigene Handschrift vermissen; sie erinnern mal an Liebermann, mal an Kandinsky. Im Gegensatz zu ihr hatten die meisten Künstlerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts ihr Handwerk als Autodidakten oder an privaten Kunstschulen erlernt. Manche von ihnen wurden in der Sturm-Galerie präsentiert, weil sie mit bekannten Künstlern verheiratet waren.
Sonia Delaunay ernährt ihren Mann Robert
Etwa Sonia Delaunay: Dass ihre farbenfrohen abstrakten Bilder an Werke ihres Mannes Robert erinnern, stellt die Schirn in Frage. Den so genannten Orphismus als „Malerei der reinen Farbe“ hatte das Ehepaar ab 1912 gemeinsam entwickelt. Während sich Robert Delaunay auf Malerei konzentrierte, fertigte seine Frau auch Mode-Entwürfe an – davon lebte die ganze Familie.
Dagegen wurde Gabriele Münter über ihren Künstler-Partner Wassily Kandinsky zum Gründungsmitglied der „Neuen Künstlervereinigung München“, aus der „Der Blaue Reiter“ hervorging. Die Formensprachen ihrer farbenfrohen Bilder sind vollkommen eigenständig; sie zählen zu den Höhepunkten der Schirn-Ausstellung.
Farbenfreude als femininer touch
Im Umkreis des „Blauen Reiters“ war auch Maria Uhden aktiv. Als 18-Jährige kam sie 1911 nach München und lernte vier Jahre später Walden kennen, von dem sie viele Anregungen erhielt. Er stellte ihre flächigen Holzschnitte mit dynamischen, auf Umrisse reduzierten Figuren mehrfach aus und reproduzierte sie als Ansichtskarten. Trotz früher Erfolge endete ihre Laufbahn jäh mit 28 Jahren, als sie nach der Geburt ihres ersten Sohnes im Kindbett starb.
Wenn die 280 gezeigten Werke einen speziellen femininen touch gemeinsam haben, dann am ehesten in ihrer Tendenz zu intensiver Farbigkeit. So erinnern die Werke von Marcelle Cahn deutlich an die ihres Lehrers Fernand Léger, dem Erfinder von „Purismus“ und „Tubulismus“. Doch im Gegensatz zur meist strengen Geometrie in Grautönen von Légers Werken wirken Cahns Bilder freier und freundlicher.
Kostüme für frühen science fiction-Film
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “Der Sturm – Zentrum der Avantgarde” über Herwarth Waldens Galerie im Von der Heydt-Museum, Wuppertal
und hier eine Besprechung der Ausstellung "1913 - Bilder der Apokalypse" - mit Werken von Else Lasker-Schüler im Franz Marc Museum, Kochel am See
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Schwestern der Revolution” über die Künstlerinnen der russischen Avantgarde im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen.
Sie entwarf zahlreiche futuristische Kostüme und Bühnenbilder für Theater und Ballett, darunter auch für den sowjetischen Stummfilm „Aelita“. Unter dem deutschen Titel „Der Flug zum Mars“ wurde er 1924 in Berlin uraufgeführt und gilt heute als einer der frühesten science fiction-Filme. Sein fantastisches Dekor dürfte Fritz Lang zu seinem Meisterwerk „Metropolis“ inspiriert haben, das drei Jahre später entstand.
Ganzkörper-Masken + Nackttanz
Mit außergewöhnlichen Masken-Tänzen wurde Lavinia Schulz eine der wenigen bekannten Schülerinnen der Sturm-Akademie. Für ihre Auftritte entwickelte Schulz surreale Ganzkörper-Masken, die in der Schirn zu bestaunen sind. Bei ihrer ersten und einzigen Aufführung auf der Sturm-Bühne trat sie jedoch nackt auf, was zu einem Sturm der Entrüstung führte.
Ihr Akademie-Lehrer Lothar Schreyer hatte ihr zuvor „wilde Leidenschaft“ attestiert, was im Rückblick geradezu prophetisch erscheint: 1924 erschoss Schulz kurz vor ihrem 28. Geburtstag zuerst ihren Mann und dann sich selbst. Damit blieb ihr zumindest erspart, den schleichenden Niedergang des Sturm-Kunstkomplexes mitzuerleben: Nach der Hyperinflation 1923 war die Käuferschicht des Bildungsbürgertums verarmt, so dass sich die Galerie kaum noch trug. Auch die Sturm-Zeitschrift erschien immer seltener; 1932 war Herwarth Walden bankrott.