Amüsement am Abgrund: „Berlin halt ein! Besinne dich. Dein Tänzer ist der Tod!“ steht 1919 auf einem Aushang. Der Erste Weltkrieg ist verloren, die Menschen gieren nach Zerstreuung; zugleich kämpfen Links- und Rechtsradikale auf den Straßen der Metropole erbittert um den neuen Staat. „In Anbetracht des Ernstes der Zeit“ verbietet der Polizeipräsident daher öffentliche Lustbarkeiten.
Info
Tanz auf dem Vulkan - Das Berlin der Zwanziger Jahre im Spiegel der Künste
04.09.2015 - 31.01.2016
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
mittwochs 12 bis 20 Uhr
im Ephraim-Palais, Poststr. 16, Berlin
Katalog 29,90 €
Faszinierende Detailfülle ermüdet
Das gelingt gut und atmosphärisch dicht. Doch der Anspruch, alle wichtigen Tendenzen der damaligen Zeit aufzugreifen, muss eine einzelne Ausstellung überfordern. Rund 500 Arbeiten von etwa 200 Malern, Grafikern, Fotografen und Kunsthandwerkern werden in faszinierender, aber auch leicht ermüdender Detailfülle ausgebreitet; dagegen geraten manche Erklärtexte über die Zusammenhänge etwas plakativ.
Impressionen der Ausstellung
„Mach Dir doch ’nen Bubikopf!“
Am überzeugendsten ist die Ausstellung, wenn sie reiches Anschauungsmaterial aus dem riesigen Fundus des Stadtmuseums ausbreitet. Etwa im Obergeschoss zum Thema Vergnügungsindustrie: Goldene und silberne Tanzschuhe drehen sich auf Schellackplatten, dazu erklingt passende Musik vor Revueplakaten und Text-Auszügen von Theobald Tiger (alias Kurt Tucholsky) und Willy Rosen. Zeitgenössische Mode wird ebenso vorgestellt wie eine damals ultramoderne Trockenhaube.
Neue Technik für eine neue Frisur; 1919 erhalten Frauen das Wahlrecht. Fortan symbolisiert der Bubikopf die Freiheiten der „Neuen Frau“: Sie wird körperbewusst und selbstbestimmt, hat Zugang zu höherer Bildung und ist häufiger berufstätig, allerdings oft in wenig qualifizierten Jobs. Eine Reihe von Porträtköpfen zeigt am Bubikopf-Beispiel sehr anschaulich, wie kurz die „Goldenen Zwanziger Jahre“ eigentlich waren: Ende der Dekade trägt frau ihr Haar wieder länger, lockiger, niedlicher und weiblicher. Wenige Jahre später propagieren die Nazis erneut das Ideal von Hausfrau und Mutter.
300.000 Zuschauer auf der AVUS
Auch die rasante städtebauliche Entwicklung der Vier-Millionen-Metropole wird vorgeführt. Gefördert von Stadtbaurat Martin Wagner und geplant von Avantgarde-Architekten wie Bruno Taut, entstehen binnen weniger Jahre große Sozialbau-Siedlungen, um die Wohnungsnot zu lindern. Sie werden zum wirkungsvollsten Vermächtnis damaliger Reformpolitik: „Neue Heimat“ lässt grüßen.
Zugleich machen Versorgung und Verkehr mobil: Künstliche Beleuchtung verwandeln nachts die Boulevards in ein einziges „Sonnenmeer“. 1921 wird die AVUS-Autobahn freigegeben; fünf Jahre später verfolgen dort 300.000 Zuschauer das Autorennen „Großer Preis von Deutschland“. 1930, nur sieben Jahre nach Eröffnung, starten und landen in Berlin-Tempelhof mehr Flugzeuge als in Paris oder London.
Emporschweben der Radiowellen
Neben Elektrizität und Verkehr gibt es noch eine weitere Form moderner Energieströme: das Radio. Im Oktober 1923 nimmt die „Funk-Stunde Berlin“ regelmäßigen Sendebetrieb auf. Für das 1931 eingeweihte Haus des Rundfunks in der Masurenallee fertigt Georg Kolbe eine Frauen-Skulptur an; sie versinnbildliche das „Emporschweben der Radiowellen“, so der preußische Kultusminister Adolf Grimme. Das Original wird von den Nazis vernichtet; an seiner Stelle ist ein Nachguss von 1964 zu sehen.
Im unteren Stockwerk werden die Künste in klassischer Sortierung vorgeführt, von Porträtmalerei bis zum Theater. Am interessantesten sind Exponate aus der Praxis, etwa das paillettenbestickte Clowns-Kostüm von François Fratellini (1925). Das Hauptaugenmerk liegt auf den Bühnenkünsten: Experimental-Theater und varieté werden enorm populär. Opulent ausgestatte revues prunken mit freizügigen Tänzerinnen im Gleichtakt; sie ziehen täglich Tausende Schaulustiger an. Daneben floriert Kleinkunst aller Art; glanzvolle Auftritte von Artisten und Magiern lassen das mühselige Dasein zeitweilig vergessen.
Prostitution + schwule Subkultur boomen
Die Abschaffung der Zensur eröffnet neue Freiheiten, die ausgekostet werden wollen. Der moderne Künstler wird zum flaneur, der das Häusermeer der Metropole durchstreift und gesellschaftliche Kontraste und Brüche registriert. Daraus entsteht rasch angefertigte „Gebrauchskunst“ von Grafik über Karikatur bis zur Reklame; Werbedesign wird ein anerkannter Beruf.
Hintergrund
Lesen Sie eine Rezension der Ausstellung "Lesser Ury und das Licht" über den Impressionisten des Berliner Nachtlebens im Museum LA8, Baden-Baden
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Wien – Berlin" über die "Kunst zweier Metropolen von Schiele bis Grosz" in der Berlinischen Galerie, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "«Die Welt will Grunewald von mir» – Bilder von Walter Leistikow" im Bröhan-Museum, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Bilderbuch des Berliner Lebens” über den Kleine-Leute-Maler Hans Baluschek im Bröhan-Museum, Berlin.
Freiraum + Leerstelle zugleich
In diesem Nebeneinander krasser Gegensätze zeigt sich die tiefe Verunsicherung des Bürgertums jener Zeit. Sie prägt auch den städtischen Raum von Groß-Berlin in seinen Grenzen von 1920: Freiraum für kulturelle Blüte einerseits, Leerstelle existenzieller Ängste andererseits. Abseits der Extreme ist politisches Engagement wenig verbreitet; man flüchtet gern in leichte Unterhaltung und Konsum, was von scharfen Beobachtern mit spitzer Feder karikiert und kritisiert wird.
So erweisen sich Gesellschaft und Kultur der kurzen, aufregenden 1920er Jahre als Kuddelmuddel, das auch diese Ausstellung nur teilweise entwirren kann. Zumal, wenn sie außerdem das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Aporien der Moderne klären will, um Voraussetzungen für die NS-Machtübernahme 1933 aufzuzeigen.
Todes-Akrobat in Nihilismus-Blase
Indem sie den Gleichmarsch der SA-Kolonnen schon in den Tanzformationen der „Tiller-Girls“ aufspürt oder die Sensationslust an „Todes-Akrobaten“ in einer Nihilismus-Blase gedeihen lässt. Alles spannende Einsichten: Doch die gesamte Gesellschaft ist zu komplex, als dass ein „Spiegel der Künste“ sie komplett einfangen könnte. Diese Schau lässt eine Menge Schlaglichter aufblitzen; mehr kann man nicht verlangen.