Koblenz + Halle/ Saale

Rudolf Schlichter – Eros und Apokalypse

Rudolf Schlichter: Strandleben am Styx (Detail), 1955, Öl auf Leinwand, 110x130 cm, © privat. Fotoquelle: Mittelrhein-Museum, Koblenz
Der deutsche Dalì: Rudolf Schlichter lebte als Bohemien im Rotlichtmilieu, wurde in den 1920er Jahren mit neusachlichen Porträts bekannt und verstieg sich später zu Splatter-Surrealismus. Zwei Museen rekonstruieren anschaulich seine Zickzack-Laufbahn.

Eigentlich müsste Rudolf Schlichter (1890-1955) berühmt sein: Sein Lebenswerk enthält fast alle Garanten für künstlerischen Erfolg. Er war ein brillanter Zeichner; die klaren, farbenfrohen Kompositionen erscheinen leicht verständlich. Seine Stilmittel folgten dem Zeitgeschmack: von schwüler Erotik vor dem Ersten Weltkrieg und radikaler Sozialkritik danach über sachlichen Realismus in den 1920er und Rückbesinnung auf Traditionelles in den 1930er Jahren bis zu apokalyptischem Surrealismus in Kriegs- und Nachkriegszeit.

 

Info

 

Rudolf Schlichter - Eros und Apokalypse

 

14.11.2015 - 14.02.2016

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

im Mittelrhein-Museum, Zentralplatz 1, Koblenz

 

Katalog 39,95 €

 

Weitere Informationen

 

28.04.2016 - 24.07.2016

mittwochs bis freitags

14 bis 19 Uhr, samstags und sonntags bis 18 Uhr

im Kunstverein "Talstrasse" e.V., Talstr. 23, Halle/ Saale

 

Weitere Informationen

 

Dennoch gilt Schlichter nur als Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“: Ein paar seiner Bilder sind Embleme der Blütezeit der Weimarer Republik, etwa sein Porträt von Bertolt Brecht oder des Journalisten Egon Erwin Kisch. Diese Ikonen werfen einen langen Schatten auf ihren Schöpfer; die letzte ihm gewidmete Ausstellung ist 18 Jahre her. Nun wollen das Koblenzer Mittelrhein-Museum und der Kunstverein „Talstrasse“ in Halle den Halbvergessenen rehabilitieren: mit einer großen Werkschau von etwa 150 Arbeiten.

 

Décadent wie Oscar Wilde

 

Sie fällt so wechselhaft aus wie sein Lebensweg: Schlichter wächst im Nordschwarzwald in ärmlichen Verhältnissen auf. Wissbegierig und begabt, studiert er ab 1910 an der Karlsruher Kunstakademie. Er gibt sich als décadent, kleidet sich wie sein Vorbild Oscar Wilde und lebt mit einer Prostituierten zusammen; seinen Lebensunterhalt verdient er mit pornographischen Grafiken von Bordell- und Orgien-Szenen.

Interview mit Direktor Matthias von der Bank + Impressionen der Ausstellung


 

Nazis indizieren Jugend-Autobiographie

 

Nach dem Ersten Weltkrieg schließt er sich in Berlin der linken „Novembergruppe“ an und nimmt 1920 an der ersten Dada-Messe teil. Schlichter haust im Rotlicht-Milieu, teilt sich mit George Grosz ein Atelier und ist 1925 mit mehreren Werken auf der Mannheimer Ausstellung vertreten, die der „Neuen Sachlichkeit“ ihren Namen gibt.

 

Zwei Jahre später trifft er die Frau seines Lebens: die temperamentvolle Schweizerin Elfriede Elisabeth Koehler. Seine stürmische Beziehung zu „Speedy“ enthüllt Schlichter 1931 im Tatsachen-Roman „Zwischenwelt“. Damit nicht genug: 1932/ 33 veröffentlicht er seine Jugend-Autobiographie in den zwei Bänden „Das widerspenstige Fleisch“ und „Tönerne Füße“; darin schildert er ausführlich seine sadomasochistischen Obsessionen. Diesen Bekenntniszwang würgen die Nazis ab; sie setzen das Werk als „pervers-erotisch“ auf den Index.

 

Freundschaft mit Ernst Jünger

 

Unter Speedys Einfluss wird ihr Mann gut katholisch und verkehrt mit Rechtsintellektuellen der „Konservativen Revolution“ wie Ernst von Salomon und Ernst Jünger; mit jenem bleibt er lebenslang befreundet. 1932 zieht das Paar ins schwäbische Rottenburg; hier übt sich Schlichter in akademischen Naturstudien und Porträts.

 

Doch ihr Lebensstil passt nicht in die Provinz. Er hat homosexuelle wie transsexuelle Neigungen und schwärmt als Schuhfetischist für Knöpfstiefel; sie unterhält diverse Liebschaften. Bald müssen sie nach Stuttgart ausweichen, aber auch hier geraten sie in Konflikt mit der NS-Obrigkeit. 1937 werden 17 Bilder von Schlichter in deutschen Museen beschlagnahmt und einige auf der Femeschau „Entartete Kunst“ vorgeführt. Wenig später wird er kurzzeitig inhaftiert; danach lässt er sich in München nieder.

 

Renaissance-Künstler auf LSD

 

Dieses Zickzack-Dasein schlägt sich in seinem Werk nieder, das die Ausstellung locker chronologisch präsentiert. Neben präzisen Zeichnungen und Avantgarde-Fingerübungen der 1910er Jahre hängen comic-artige Wildwest-Fantasien, mit denen er seine Karl-May-Lektüre bebildert. Seine Sittenbilder aus den 1920er Jahren sind einerseits viel dezenter als diejenigen seines Freundes Grosz oder von Otto Dix. Nie verzerrt Schlichter die Akteure ins Groteske: Zwei wohl behütete Damen scheinen braven Kaffeeklatsch abzuhalten, wäre das Aquarell nicht „Gruß aus Lesbos“ (1923) betitelt.

 

Andererseits rührt der Künstler in harmlose Szenen wilde Kolportage hinein, lässt Killer herumballern und Liebesspiel wie Lustmord aussehen; sämtliche Frauenfiguren tragen stets und überall Knöpfstiefel. Die Kontraste in Schlichters Schaffen werden ab den 1930er Jahren noch größer: Seine Landschaften und Bildnisse sind geradezu altmeisterlich akkurat. In ähnlicher Manier malt er zugleich fantastische Allegorien und Historienbilder, die blutrünstigen Fieberträumen gleichen – als habe ein Renaissance-Künstler LSD geschluckt.

 

Riesenkröte auf Frauen-Torso

 

Wenige davon sind breiteren Kreisen bekannt. Etwa „Blinde Macht“, zwischen 1932 und 1937 entstanden und im Besitz der Berlinischen Galerie: Ein halbnackter Koloss von Legionär hinterlässt Tod und Zerstörung. Mit geschlossenem Helmvisier geht er auf einen Abgrund zu; an ihm saugen abstoßende Lemuren und Mischwesen. Es liegt nahe, darin eine Kritik am NS-Regime zu sehen, doch die Umsetzung ist in jeder Hinsicht monströs.

 

Etliche dieser Bilder schwelgen in Scheußlichkeiten: „Die moderne Salome“ (1947), die einem Ufa-Filmstar gleicht, betrachtet einen im Blut schwimmenden Glatzkopf; beobachtet von einem grimmigen SS-Mann. „Der Unhold“ von 1945 ist eine gepanzerte Riesenkröte, die sich auf einem verstümmelten Frauen-Torso festkrallt. Oder Schlichter kombiniert Präraffaeliten-Ästhetik mit high tech look zu zeitlosem crossover-Kitsch.

 

Gewaltfantasien als Zivilisationskritik

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Tanz auf dem Vulkan" über das "Berlin der Zwanziger Jahre im Spiegel der Künste" mit Werken von Rudolf Schlichter im Ephraim-Palais, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Menschliches – Allzumenschliches" über die Neue Sachlichkeit mit Werken von Rudolf Schlichter im Lenbachhaus, München

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Dix/Beckmann: Mythos Welt" mit Werken von Otto Dix in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München.

 

Auf „Sie starb daran“ (1945) trauert ein Mann um eine Frauenleiche, die an die „Ophelia“ (1852) von John Everett Millais erinnert; konfrontiert mit einer Phalanx aus Henkern, KZ-Ärzten und Gasmasken-Kampfmaschinen. Kein Zweifel, dass „Schlichters eigene Gewaltfantasien zu Ausgangspunkten seiner kulturpessimistischen Zivilisationskritik werden“, wie der Katalog betont: Die fällt aber so eindimensional und wahnhaft aus, dass wohl nur splatter– und heavy metal fans sich für solche Krassheiten begeistern können.

 

Erst in den 1950er Jahren findet Schlichter zu einer sozialverträglichen Darstellung seiner Fantasien: mit surrealen Endzeit-Landschaften, die von Giorgio de Chirico, Yves Tanguy oder Salvador Dalì inspiriert scheinen. Mit dem schnauzbärtigen Spanier hatte er einiges gemeinsam: technische Virtuosität, Hingabe an seine Muse, besessene Beschäftigung mit sexueller Gewalt und wortreiches Sendungsbewusstsein. Doch Schlichter fehlte Dalìs Talent zur Selbstdarstellung und -vermarktung; so blieb er vor allem Porträtist und Buch-Illustrator.

 

Horror-Gruselgebilde vorweggenommen

 

Worauf ihn der Kunstbetrieb lange reduzierte, soweit er ihn überhaupt wahrnahm; sein Freund Grosz hat ihn als stillen „Träumer“ gezeichnet. Dass Schlichter irrwitzige Gruselgebilde ausbrütete, die viele Schockeffekte heutiger horror– und science fiction blockbuster vorwegnahmen, zeigt diese Wiederausgrabung sehr anschaulich: eine schillernde Sumpfblüte, die lange nur verborgen in Privatsammlungen blühte.