Emma Watson + Daniel Brühl

Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück

Der linke Fotograf Daniel (Daniel Brühl) wird vom chilenischen Militär festgenommen. Fotoquelle: © Majestic Filmverleih
(Kinostart: 18.2.) Wie ein klerikalfaschistischer Ministaat funktioniert: In seinem packenden Polit-Thriller über die auslandsdeutsche Sekte in Chile enthüllt Regisseur Florian Gallenberger, dass der damalige BRD-Botschafter mit Kriminellen kungelte.

Zur falschen Zeit am falschen Ort landet die stewardess Lena (Emma Watson): Sie fliegt am 10. September 1973 in Santiago de Chile ein, um ihren Freund Daniel zu treffen. Am Tag darauf putscht General Pinochet gegen Präsident Allende. Dagegen protestieren Hunderttausende; viele Demonstranten werden verhaftet, darunter auch die beiden Westdeutschen. Sie kommt bald wieder frei, doch ihr Freund bleibt verschwunden.

 

Info

 

Colonia Dignidad -
Es gibt kein Zurück

 

Regie: Florian Gallenberger,

110 Min., Deutschland/ Luxemburg 2015;

mit: Daniel Brühl, Emma Watson, Michael Nyqvist

 

Website zum Film

 

Dann erhält sie Hinweise, dass Daniel von Pinochets Geheimdienst DINA in die Colonia Dignidad verschleppt worden ist; eine Sekte von Auslandsdeutschen rund 400 Kilometer südlich der Hauptstadt. Lena fasst einen tollkühnen Entschluss: Sie will sich dieser Glaubens-Gemeinschaft pro forma anschließen, um ihren Freund aufzuspüren.

 

Von Kirche wegen Sadismus entlassen

 

Während die beiden Hauptfiguren des Films von Regisseur Florian Gallenberger fiktiv sind, ist der Schauplatz nur allzu real: Die Colonia Dignidad war das alleinige Reich von Paul Schäfer. Der gebürtige Bonner hatte in der Nachkriegszeit als Jugendbetreuer für die evangelische Kirche gearbeitet; sie entließ ihn diskret, nachdem seine sadistischen und pädophilen Verfehlungen ruchbar geworden waren.

Offizieller Filmtrailer


 

Agrarbetrieb mordet für Geheimdienst

 

Als Laienprediger scharte er zahlreiche Jünger um sich, die er mit Endzeit-Lehren zu Askese und Zwangsarbeit anhielt. Vor einem Haftbefehl wegen Vergewaltigung zweier Jungen floh Schäfer 1961 nach Chile, wohin ihm mehrere Hundert Anhänger folgten. Gemeinsam bauten sie die Colonia Dignidad („Kolonie der Würde“) auf: Auf 30.000 Hektar entstand ein großer Agrarbetrieb mit eigener Siedlung samt Krankenhaus, Straßen, Brücken und Bergwerken. Durch 16-stündige Arbeitstage für alle Mitglieder war das Landgut autark und hochprofitabel.

 

Schäfer und seine Getreuen hatten beste Verbindungen zum Pinochet-Regime. Vor und nach dem Putsch von 1973 war die Kolonie eine Außenstelle des chilenischen Geheimdienstes: Hier wurden nicht nur aus Deutschland importierte Waffen und Munition gelagert, sondern auch mindestens 22 Regimegegner gefoltert, ermordet und verbrannt. Dass hinderte hochrangige CSU-Politiker wie Franz Josef Strauß nicht daran, die Colonia Dignidad zu besuchen und ihre Aktivitäten zu decken. Medienberichte über die dubiose Kolonie blieben folgenlos.

 

Scharfe Sozialkontrolle wie in Strafkolonie

 

Sie schildert Regisseur Gallenberger aus der Innenansicht: In Gestalt von Lena lässt er das Publikum ausgiebig am Kolonie-Alltag teilhaben. Die unablässige Plackerei ist derart kräftezehrend und erniedrigend, dass sie der „Vernichtung durch Arbeit“ ähnelt, wie sie die Nazis praktizierten. Beide Geschlechter hausen so streng voneinander getrennt, dass Lena kaum Kontakt zu Daniel aufnehmen kann.

 

Bei Psychoterror-Sitzungen lenkt der Sektenchef geschickt Gruppen-Aggressionen auf willkürlich ausgewählte Sündenböcke; Strafen und Demütigungen kommen sexuellem Missbrauch nahe. Beeindruckend präzise zeigt der Film die Mechanismen, mit denen Schäfer alle Insassen zu gegenseitiger Bespitzelung anhält: vermeintliche Vertrauensbeweise und religiös geschürte Angst sorgen für lückenlose Sozialkontrolle.

 

Botschaft liefert Geflohene an Lager-Schergen aus

 

Kein Zweifel: Dieser Charismatiker hatte ein totalitäres System etabliert, das NS-Konzentrationslagern oder dem sowjetischen Gulag glich. Aus seinem klerikalfaschistischen Ministaat im Staate gab es kein Entkommen: Palisaden-Zäune, Wachtürme und bewaffnete Patrouillen schotteten das Areal gegen die Außenwelt ab.

 

Dennoch lässt Regisseur Gallenberger seine Protagonisten aus der Kolonie fliehen – was laut Abspann nur fünf Personen je gelungen ist – und in der bundesdeutschen Botschaft in Santiago Schutz suchen. Was nun folgt, ist ein ungeheuerlicher Skandal: Die Botschaft will beide wieder an Schäfers Schergen ausliefern – obwohl zu den wichtigsten Pflichten jeder diplomatischen Vertretung zählt, im Ausland gestrandeten Deutschen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen.

 

Diplomaten-Korpsgeist wie bei der Mafia

 

Aber nicht in Chile: Erich Strätling, Botschafter von 1976 bis 1979, war mit dem Sektenchef befreundet – und wehrte alle Vorwürfe gegen die Kolonie als haltlos ab. Vom Auswärtigen Amt (AA) wird diese Kumpanei seines Gesandten mit einem Kriminellen bis heute unter den Teppich gekehrt. Zu einer öffentlichen Anhörung des Bundestags-Unterausschusses für Menschenrechte 1988 erschien Strätling nicht. Wiederholung unmöglich: Er starb 2003.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier ein Interview mit Regisseur Florian Gallenberger über "Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück"

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Perlmuttknopf – El Botón de Nácar" - exquisiter Essay-Film über die Verfolgung von Indios + Oppositionellen in Chile von Patricio Guzmán

 

und hier eine Rezension des Films ¡No! – packendes Polit-Drama über das Ende der Pinochet-Diktatur in Chile von Pablo Larraín

 

und hier einen kultiversum-Beitrag über den Film "Das Lied in mir" - sensibles Kammerspiel über deutsche Verstrickung in die argentinische Militär-Diktatur von Florian Cossen.

 

Es ist kaum zu fassen: AA-Amtsträger begehen gröbste Verfehlungen gegen ihre Landsleute, und das Ministerium sieht weg. Solch skrupellosen Korpsgeist findet man auch bei der Mafia: Die eigenen Leute werden um jeden Preis gedeckt. Fragt man jetzige Diplomaten danach, wiegeln sie ab; all das sei doch 40 Jahre her. Dieser Unwille, den Schandfleck zumindest post festum aufzuklären, lässt Böses ahnen: Wie viele Leichen mag das Auswärtige Amt noch im Keller haben?

 

Nur im Bayern-Haus, nicht auf Berlinale

 

Durch seine brisanten Enthüllungen wäre „Colonia Dignidad“ eigentlich der ideale Kandidat für die diesjährige Berlinale; sie hält sich auf ihre kritisch-politische Ausrichtung viel zugute. Doch der Film erlebte seine Premiere auf dem Festival von Toronto im September 2015. Was kein Hinderungsgrund wäre, ihn außerhalb des Wettbewerbs in Berlin zu präsentieren – doch er wurde nur eine Woche vor Berlinale-Start in Bayerns Landesvertretung gezeigt.

 

Ob dabei eine Rolle spielt, dass die Berlinale eine Kulturveranstaltung des Bundes ist – und Kulturstaatsministerin Grütters ihrem Kabinettskollegen Steinmeier die Peinlichkeit einer öffentlichen Debatte über dieses dunkle Kapitel seines Hauses ersparen will? Jedenfalls kommt mit „Colonia Dignidad“ der bedeutendste deutsche Polit-Thriller seit langem ins Kino.

 

Folklore-Hotel für Katastrophen-Tourismus

 

Mag Regisseur Gallenberger bei der halsbrecherischen Flucht seiner Helden aus dem Lager und Land auch ein paar Kolportage-Elemente bemühen: Allein die letzte Viertelstunde über die schändliche Verstrickung der deutschen Botschaft macht sein Werk zum Meilenstein des investigativen Autorenfilms.

 

Nach Pinochets Abwahl 1990 verlor ein Jahr darauf die Kolonie ihren Status der Gemeinnützigkeit; es folgte jahrelanges juristisches Tauziehen. 1997 tauchte Schäfer unter, wurde 2005 in Argentinien festgenommen und in Chile wegen Kindesmissbrauchs zu 20 Jahren Haft verurteilt; er starb 2010 mit 88 Jahren im Gefängnis. Heute heißt die reformierte Kolonie „Villa Baviera“. Die rund 115 Mitglieder betreiben unter anderem ein Folklore-Hotel – für Katastrophen-Tourismus der speziellen Sorte.