
Um in Zeiten des Internets mit seiner globalen Verbreitung und Speicherung von digitalen Daten unerkannt zu bleiben, hilft ein möglichst häufiger Name. Personennamen wie John Smith und Michael Müller sind perfekt – kaum zu googeln, weil Hunderttausende so heißen. Oder man trägt den Namen einer Persönlichkeit, die berühmter ist als man selbst: Phil Collins zum Beispiel.
Info
Tomorrow is always too long
Regie: Phil Collins,
82 Min., Großbritannien 2014;
mit: Kate Dickie, Mick Harden, Molly Christie
Interaktion stiftet keine Gemeinschaft
Mit der Gnade seiner frühen Geburt 1970 kann er sich das leisten; er ist kein digital native. So darf er kritisieren, was alle Gleichaltrigen am Internet beklagen: dass soziale Interaktion in der digitalen Welt keine gemeinschaftliche Erfahrung mehr sei, „weil die Menschen nicht gemeinsam dasselbe zur selben Zeit machen“.
Offizieller Filmtrailer OmU
Beruhigende PC-Festplatte
Diese Erkenntnis, die wohl auch fürs Fernsehen gilt, drückt Phil Collins in seinem neuen Film „Tomorrow Is Always Too Long“ aus. Er blickt in einer bunten Collage auf die Beziehungen von Menschen, sucht nach Momenten ihrer Begegnung und der gestörten Kommunikation – oft in den Parallelwelten von TV und cyberspace.
Da sucht etwa ein traurig dreinblickender junger Mann auf dating websites nach einem Partner. Eine verschleierte Wahrsagerin verheißt in einer TV-Verkaufsshow den Blick in die Zukunft, bietet Tarotkarten-, Kaffeesatzlesen und Aura-Analyse an. Doch auch ihre Welt, in der sie als Prophetin agiert, erscheint schal und erlebnisarm: „Der Klang einer hochfahrenden Festplatte beruhigt“, stellt sie nüchtern fest – da hilft wohl auch keine Magie mehr.
Amor würde in Glasgow entwaffnet
Schön ist auch die Geschichte, die in einer der vielen talkshow-Sequenzen erzählt wird: Ein ältere Dame erzählt die Legende, wie Amor mit Pfeil und Bogen die Menschen zu Liebenden macht. In Glasgow wird der Gott der Liebe damit keinen Erfolg haben, regt sich die Dame mit schottisch gefärbtem Akzent auf: Hier sei es ja leider verboten, auf der Straße Waffen zu tragen.
Schnitt – schon folgt der nächste clip, die nächste Musikeinspielung, als zappte man selbst durch die Kanäle. Es macht den Reiz dieser unkommentierten Aneinanderreihung von Filmschnipseln aus, dass man nie genau weiß, ob es sich um found footage aus Kabelfernseh-Sendern oder Internet-Videoportalen handelt, oder ob Collins die Szenen selbst inszeniert hat. In seinem Werk kam immer beides vor: Fiktion und Realität. Aber wer kann das heute schon auseinanderhalten?
Ein Jahr in Glasgow verbracht
Dabei ist Collins‘ Film eine Hommage an die Stadt Glasgow, deren Kunsthochschule viele bekannte zeitgenössische Künstler hervorgebracht hat. Collins zählt nicht dazu; er tingelte von Manchester über London nach Belfast, studierte zunächst englische Literatur, unterrichtete dann Filmtheorie und performance und machte schließlich einen Master in bildender Kunst. Ein ganzes Jahr hat Collins für die Recherche und Dreharbeiten in Glasgow verbracht: Er begleitete ein junges Paar durch die Zeit seiner Schwangerschaft. Er versumpfte mit Stammgästen in Kneipen. Er tanzte in Diskotheken und beobachtete Elvis-Doubles.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Imagine waking up tomorrow and all music has disappeared" - hinreißendes Porträt des Musik-Querdenkers Bill Drummond von Stephan Schwietert
und hier einen Bericht über das Festival "Kino der Kunst 2015" - mit Film-Beiträgen von Phil Collins und anderen bildenden Künstlern.
In Berlin Gift ausschenken
Als roter Faden ziehen sich animierte Szenen durch den Film, die dem Zuschauer immer wieder in Erinnerung: Das ist keine Dokumentation, sondern eine künstlerische Komposition. Dazu tragen auch musikalische Einlagen bei, die von Laien gesungen werden. Diese Art von Karaoke hat Phil Collins bereits 2005 in seinem Projekt „The World Won’t Listen“ verwendet: Darin versuchten sich Könner und Stümper an songs der Band „The Smiths“.
2006 war Phil Collins für den renommierten Turner Prize der „Tate Gallery“ nominiert; gewonnen hat er ihn nicht. Seit 2011 betreibt Collins eine Bar; in Berlin natürlich. Sie heißt „Das Gift“, weil hier solches poison ausgeschenkt wird, mit dem in englischen pubs die working class ihren Arbeitsalltag vergessen will: schottischer whisky und englisches ale. In Collins‘ nächstem Film würde man sich seine Perspektive auf die Stadt Berlin wünschen.