Vincent Landon

Der Wert des Menschen – La Loi du Marché

Thierry (Vincent Lindon) räumt seinen Spind aus. Foto: Temperclayfilm
(Kinostart: 17.3.) Überwachungskamera im Arbeitsalltag: Regisseur Stéphane Brizé will vorführen, wie Langzeit-Arbeitslosigkeit zermürbt und moralische Skrupel aufweicht – doch seine kontextlose und ereignisarme Pseudo-Doku wirkt ähnlich quälend.

Kleiner Mann, was nun? Thierry Taugourdeau (Vincent Landon) hat es schwer: Der 51-jährige Maschinist ist seit 20 Monaten arbeitslos. Er streitet mit einem Arbeitsamt-Berater über den Zweck einer Umschulung zum Kranführer, die ihm keine Anstellung einbringt. Er beteiligt sich nicht an Protesten gegen seine Ex-Firma, die ihre Produktion ins Ausland verlagert, weil er mit ihr abschließen will.

 

Info

 

Der Wert des Menschen –
La Loi du Marché

 

Regie: Stéphane Brizé,

90 Min., Frankreich 2015;

mit: Vincent Lindon, Karine de Mirbeck, Matthieu Schaller

 

Weitere Informationen

 

Er muss sich beim Bewerbungsgespräch via Skype anhören, dass sein Lebenslauf dürftig und seine Chancen minimal seien. Er isst mit seiner Frau (Karine de Mirbeck) und ihrem behinderten Sohn (Mathieu Schaller) zu Abend; später besuchen die Eheleute einen Tanzkurs. Er lehnt es ab, ihre Wohnung zu verkaufen, was ihm eine Bankangestellte nahe legt, damit er seine Kredite bedienen kann. Stattdessen bietet er ihr Wochenend-Häuschen auf einem camping-Platz feil und feilscht mit Interessenten um den Kaufpreis; man wird nicht handelseinig.

 

Kassiererinnen auf Rabattmarken filzen

 

Er nimmt an einem Bewerber-Training teil; dort wird ihm empfohlen, energischer aufzutreten. Plötzlich hat Thierry einen Job als Supermarkt-Detektiv; wie er ihn bekommen hat, bleibt offen. Seine neuen Kollegen weisen ihn ausführlich ein, wie man Überwachungs-Kameras bedient und verdächtige Kunden an ihren Verhaltensmustern erkennt. Oft muss er jedoch die Kassiererinnen filzen, weil sie Rabattmarken oder Bonuspunkte unterschlagen haben – was für die Beteiligten genauso tragisch endet wie für den Film.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Anstrengender Etikettenschwindel

 

All das zeigt Regisseur Stéphane Brizé in ungeschnittenen, quälend langatmigen Szenen ohne Vorinformationen oder Kontext. Meist verweilt die Kamera-Einstellung auf dem Gesicht, gerne auch im Nacken, von Charakterdarsteller Vincent Landon; er wurde für diese one man show beim Festival in Cannes als bester Schauspieler ausgezeichnet. Seine Gesprächspartner sind selten zu sehen – und wenn, erschließt sich nur allmählich, was sie von ihm wollen und warum.

 

Diese Bildsprache entstammt der Dokumentarfilm-Schule des cinema vérité oder direct cinema der 1960/70er Jahre; ihre Vertreter beanspruchen, Wirklichkeit unmittelbar abzubilden. Regisseur Brizé inszeniert mit lauter Laien außer Landon einen Spielfilm, suggeriert aber, er führe die heutige Realität prekärer Arbeitsverhältnisse ungeschminkt vor. Ein Etikettenschwindel, der seinen Film nicht authentischer macht, nur anstrengender.

 

Karger Betroffenheits-Kitsch

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films Zwei Tage, Eine Nacht - Sozialdrama über drohenden Jobverlust von Jean-Pierre + Luc Dardenne mit Marion Cotillard

 

und hier einen Bericht über den Film “Mein Stück vom Kuchen” – originelle Arbeitslosen-Tragikomödie von Cédric Klapisch

 

und hier einen kultiversum-Beitrag über den Film „Mademoiselle Chambon“ – subtiles Seitensprung-Kammerspiel von Stephane Brizé mit Sandrine Kiberlain + Vincent Landon.

Was Thierry bewegt, welche Zweifel oder moralischen Bedenken ihn heimsuchen, ist seinem pokerface nicht abzulesen; er redet darüber weder mit anderen noch sich selbst. Ebenso wenig erfährt man, was seine Gegenüber antreibt – Sachzwänge oder äußerer Druck, Eigeninteresse oder Willkür? Der Film begnügt sich damit, Momentaufnahmen aneinander zu reihen, blendet aber jede Entwicklung aus.

 

Damit bebildert er das Elend einer Kapitalismus-Kritik, die auf jeden theoretischen Überbau verzichtet: Aus der Ameisen-Perspektive der Benachteiligten kann sie nur ihr hartes Los und die Ungerechtigkeit der Welt beklagen, ohne irgendwelche Zusammenhänge oder Veränderungs-Potential aufzuzeigen – eine karge Variante von Betroffenheits-Kitsch.

 

Beziehungs-Studien sind besser

 

Alle sind nur bemitleidenswerte Rädchen im Getriebe, das von amoralischen Mächten gesteuert wird; wer nicht mitspielt, geht hohe Risiken ein. So weit, so banal: Über „das Gesetz des Marktes“ im französischen Originaltitel oder gar den „Wert des Menschen“ erfährt man hier nichts.

 

Regisseur Brizé hat bislang vor allem subtile Beziehungs-Studien gedreht; etwa „Man muss mich nicht lieben“ (2005) über einen Gerichtsvollzieher, der sich in eine Tanzschülerin verguckt. Oder „Mademoiselle Chambon“ (2009) ebenfalls mit Vincent Landon; da geht er mit Sandrine Kiberlain als Aushilfs-Lehrerin fremd. Doch zu ökonomischer Abhängigkeit und Ausbeutung hat Brizé wenig zu sagen, weil dafür mikroskopische Beobachtung des Privaten nicht ausreicht.