
So nah, so fern: Prähistorische Felsbilder sind die langlebigsten und geheimnisvollsten Kunstwerke der Menschheit. Eine wahre Weltkunst, deren Zeugnisse sich auf allen Kontinenten finden; samt gemeinsamer Stilmerkmale. Zugleich umgibt sie ein großes Mysterium: Nach mehr als 100 Jahren Forschung ist weiterhin ungeklärt, wer diese Bilder einst angefertigt hat – und wozu.
Info
Kunst der Vorzeit - Felsbilder aus der Sammlung Frobenius
21.01.2016 - 16.05.2016
täglich außer dienstags
10 bis 19 Uhr
im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin
Katalog 25 €,
Essay-Band 15 €
Fett konserviert Farbe für Jahrtausende
Die ältesten bekannten Felsbilder entstanden vor etwa 40.000 Jahren; sie haben überdauert, weil ihre Schöpfer Farbpigmente mit Fett als Bindemittel vermischt hatten, das in den Fels eindrang. Oder sie wurden direkt in den Stein geritzt oder geschabt; solche Petroglyphen können noch älter sein. Manche Malereien in Südfrankreich, Südafrika und Australien werden auf ein Alter von 30.000 Jahren geschätzt; diejenigen in der Sahara, der berühmten Höhle von Lascaux und der im nordspanischen Altamira sind 15.000 bis 20.000 Jahre jünger.
Impressionen der Ausstellung
Höhere Töchter kopierten Felsbilder
Dort entdeckte man 1879 die ersten Felsbilder in Europa; ihre Echtheit wurde erst nach 23 Jahren anerkannt, als man ähnliche Höhlenmalereien im Tal der Dordogne fand. In der Zwischenkriegszeit wurde prähistorische Kunst sehr populär; ihr wohl einflussreichster Propagandist war der Ethnologe Leo Frobenius (1873-1938). Er gründete 1898 sein eigenes „Institut für Kulturmorphologie“ und unternahm ab 1904 Forschungsreisen nach Afrika.
Hier sammelte er Volkserzählungen, Objekte und Kopien prähistorischer Felsbilder. Die ließ er von jungen Kunsthochschul-Absolventen erstellen; mehrheitlich Frauen, die als „höhere Töchter“ die Kosten selbst tragen konnten, denn ihr Reiseleiter war stets knapp bei Kasse. Bis 1925 die Stadt Frankfurt seine Sammlung ankaufte und das Institut dorthin umzog; nun legte Frobenius erst richtig los.
Von Wilhelm II., Hindenburg + Hitler finanziert
Manche beschreiben den Autodidakten als erratisch, andere als „felsbildsüchtig“; jedenfalls war er ein Genie der Selbstvermarktung. In rund 50 Büchern legte er seine Verfallstheorie dar, wonach die Menschen anfangs in ihrer Kunst unmittelbare Ergriffenheit ausgedrückt hätten, bis sie zum beliebigen Spiel der Zeichen verflacht sei. Zugleich suchte Frobenius die Gunst der Mächtigen, um seine Expeditionen zu finanzieren; Ex-Kaiser Wilhelm II., Reichspräsident Paul Hindenburg und Adolf Hitler spendeten hohe Summen.
Weitere Einnahmen erzielte er mit 30 Wanderausstellungen: Felsbild-Kopien waren in fast allen deutschen Großstädten und europäischen Metropolen zu sehen. Die letzte und wichtigste Schau fand 1937 im Museum of Modern Art in New York statt. Auf drei Etagen wurden Kopien in Originalgröße präsentiert, in der vierten Werke von zeitgenössischen Künstlern wie Joan Miró, Paul Klee und Hans Arp.
Mirò + Klee direkt neben Felsbild-Kopien
Das entsprach dem Zeitgeist: Viele Künstler der Epoche von Picasso über Ernst Ludwig Kirchner bis zu den Surrealisten hatten sich nicht nur durch prähistorische Artefakte inspirieren lassen. Diese Darstellungen, die zwischen Figürlichem und Abstraktion oszillierten, sollten auch die Experimente der Moderne legitimieren: als Beleg für eine universale Formensprache seit Anbeginn der Menschheit, an die nun die Avantgarde wieder anknüpfe.
So betitelte das Londoner Institute of Contemporary Art 1948 eine Ausstellung „40,000 Years of Modern Art“ – und hängte Gemälde von Mirò und Klee direkt neben Felsbild-Kopien. In den 1940/50er Jahren griffen Informel-Künstler wie WOLS und Willi Baumeister darauf zurück; ihr Einfluss ist noch dem all-over der drip paintings von Jackson Pollock anzumerken. Ab 1960 schwand das Interesse an prähistorischer Malerei – im Kunstbetrieb und allgemein.
5000 handgemalte Felsbilder im Archiv
Die bisherige Dokumentations-Methode galt als überholt; dafür nutzten Ethnografen fortan die Farbfotografie. Rund 5000 handgemalte Felsbild-Kopien im Besitz des Frobenius-Instituts, das bis heute besteht, wanderten ins Archiv; manche litten unter schlechter Lagerung. Nun werden 130 besonders eindrucksvolle Exemplare im Martin-Gropius-Bau wieder gezeigt – zum ersten Mal seit 50 Jahren.
Auf ihre Wirkung auf die klassische Moderne verwenden die Kuratoren nur wenige Worte; Bildbeispiele fehlen völlig. Stattdessen stellt die Schau den Wert der Arbeiten als Kunstwerke eigenen Ranges heraus: Sie sind keineswegs bloße Faksimiles der Felsbilder. Deren prähistorischen Schöpfer malten auf dreidimensionalem Grund und bezogen die Unebenheiten des Gesteins mit ein. Häufig stellten sie Motive in mehreren Schichten übereinander dar; im Lauf der Zeit verblassten diese durch Witterung und Erosion. Manchmal sind sie nur noch erkennbar, wenn man sie mit Wasser bespritzt.
Wie Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts
All das auf zweidimensionales Papier oder Leinwand zu übertragen, war schwierig – zumal die Felsbilder oft meterlange Flächen bedeckten. Frobenius verlangte von seinen Gehilfen, sie im damaligen Zustand einschließlich aller Verfallsspuren festzuhalten. Die Kopisten mussten Motive auswählen und den Untergrund farblich widergeben. Gewöhnlich fertigten sie vor Ort etliche Skizzen an, die sie später im Atelier zu Aquarellen, Leimfarbe- oder Ölgemälden ausarbeiteten – wie Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts.
Die Ergebnisse sind also keine originalgetreuen Reproduktionen der Felsbilder; sie können es gar nicht sein. Eher bieten sie einen idealisierten Anblick zentraler Motive und Szenen – bereinigt um alle Störfaktoren von Zeit und Raum. Das mag wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen, wohl aber ästhetischen: Was aus prähistorischem Dunkel zum Vorschein kommt, ist schlichtweg atemberaubend.
Vor Bewegung berstende Massenszenen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Krieg – eine archäologische Spurensuche" mit 7000 bis 5000 Jahre alten Felsmalereien in Ostspanien und der Sahara im Landesmuseum für Vorgeschichte, Halle/ Saale
und hier eine Besprechung der Ausstellung „Kykladen“ über „Lebenswelten einer frühgriechischen Kultur“ in der Ägais der Bronzezeit im Badischen Landesmuseum, Karlsruhe
und hier eine Besprechung der Ausstellung „Remembering Forward“ mit Malerei der australischen Aborigines im Museum Ludwig, Köln
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Jimmy Nelson: Before They Pass Away” – Fotografien von indigenen Völkern + Kulturen weltweit in der Galerie Camerawork, Berlin.
Einige Massenszenen bersten schier vor dynamischer Bewegung – sind es Momentaufnahmen von Treibjagden oder Feldschlachten? Auf anderen tummeln sich zahllose Figuren in allen Formaten, vom Riesen-Elefanten bis zu punktgroßen Menschlein: wie Triumphzug-Friese auf römischen Siegessäulen, indischen Palästen oder Khmer-Tempeln in Angkor.
Anschauung ohne Begriffe ist blind
Man kommt aus dem Staunen kaum heraus: angesichts der gewagten Kompositionen, kühnen Farbkontraste und rätselhaften Symbolik. Frobenius‘ Leute gaben ihren Arbeiten scheinbar nüchterne Titel, die aber sehr spekulativ sind: Niemand weiß, ob tatsächlich eine „Prozession“, „Regenzeremonie“ oder „Begräbnisszene“ abgebildet ist. Alle heutigen Deutungen dieser Bilder als Jagdzauber, magische Relikte oder schamanistische Praktiken bleiben willkürlich: Ihr einstiger Kontext ist gänzlich unbekannt.
Wenn es noch eines Beweises für Kants These bedürfte, dass Anschauung ohne Begriffe blind sei: Hier wäre er in aller Pracht erbracht. Fast alle Formen wirken vertraut und leicht zu entschlüsseln – doch ihre Kombination ist unfassbar fremdartig. Wir sehen alles und verstehen nichts.