Berlin

Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie

Boris Lurie: Pin Up (Body), 1963, Siebdruck und Acryl auf Leinwand, 117x127cm; © Boris Lurie Art Foundation. Foto: ohe
Der große Verweigerer: Der Holocaust-Überlebende Boris Lurie klagte in seinen Arbeiten den Zynismus der modernen Welt an. Seine sperrige bis pornographische "NO!art"-Kunst stellt das Jüdische Museum erstmals hierzulande in einer umfassenden Werkschau vor.

In your face: Die Kunst des Boris Lurie (1924-2008) springt dem Betrachter förmlich ins Gesicht. Sie brüllt ihn lautlos an, haut ihm Zeichen und Botschaften um die Ohren, quält mit schneidenden Dissonanzen und fiesen Kontrasten. Sie ist quasi ein endlos variierter, aber kaum modulierter Schrei – das visuelle Pendant zu grindcore oder death metal in voller Lautstärke.

 

Info

 

Keine Kompromisse!
Die Kunst des Boris Lurie

 

26.02.2016 - 31.07.2016

täglich 10 bis 20 Uhr, montags bis 22 Uhr

im Jüdischen Museum, Lindenstraße 9-14, Berlin

 

Begleitband 29 €

 

Weitere Informationen

 

Das ist sehr anstrengend; kein Wunder, dass Lurie im Kunstbetrieb stets ein Außenseiter blieb. Außer in einigen Galerien wurden seine Arbeiten selten gezeigt; allenfalls im Kontext von Judentum und Genozid. Hierzulande stellte ihn am ausführlichsten 2014 das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln vor. Die Schau im Jüdischen Museum Berlin ist mit rund 200 Exponaten die bislang größte posthume Retrospektive – ein mutiger Schritt für dieses Haus, das sonst eher auf unkontrovers informative Ausstellungen abonniert ist.

 

Mit Vater in vier KZs interniert

 

Dagegen hat Lurie weder Kontroversen noch Eklats gescheut, sondern sie geradezu gesucht, ja provoziert. Weil er das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts er- und überlebt hatte: die industrielle Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Als Kind wohlhabender jüdischer Eltern wuchs er in Riga auf. 1941  erschossen deutsche Besatzer seine Mutter, Schwester, Großmutter und Jugendliebe; er und sein Vater wurden in vier Konzentrationslagern interniert. 1946 wanderten beide nach New York aus, wo Lurie bis ans Lebensende wohnte.

Impressionen der Ausstellung


 

Deformierte Körper à la Francis Bacon

 

Das Trauma des holocaust prägt sein gesamtes Werk. Angefangen mit figurativen Zeichnungen und Ölgemälden, die er bald nach seiner Ankunft in den USA anfertigte; sie stellen das Grauen des Lager-Alltags in zahllosen Variationen dar. Währenddessen schockierte Lurie, wie die Enthüllungen des KZ-Systems von der US-Gesellschaft aufgenommen wurde: beiläufig und oberflächlich, von Katharsis keine Spur. Illustrierte druckten Fotoreportagen aus befreiten KZs neben Reklame für Konsumartikel.

 

Dieses monströse Nebeneinander schreiender Gegensätze machte Lurie zu seinem künstlerischen Prinzip. In den 1950er Jahren noch auf konventionellen Tafelbildern: In den „Dance Hall Series“ porträtierte er Eintänzerinnen als einsame Erscheinungen in rauchigen Höhlen. Seine „Dismembered Women“ sind aufgeblähte, deformierte Frauengestalten nahe der Auflösung; ähnlich den versehrten Körpern, mit denen Francis Bacon zur gleichen Zeit berühmt wurde.

 

Collagen aus pin-up-Fotos + Leichenbergen

 

Doch diese Grotesken waren Lurie nicht radikal genug – zudem empfand er den Abstrakten Expressionismus und die aufkommende Pop Art, die das zeitgenössische US-Kunstgeschehen dominierten, als zu gefällig und kommerziell. 1959 gründete er mit Sam Goodman und Stanley Fisher, die leider in der Schau kaum auftauchen, die Bewegung NO!art. Das Trio veranstaltete bis 1964 wüste Galerie-Spektakel mit Titeln wie „Vulgar Show“ oder „Doom Show“; an ihnen nahmen bekannte Kollegen wie happening-Pionier Allan Kaprow oder Fluxus-Vordenker Wolf Vostell teil.

 

Die NO!art sollte den Kunstmarkt sabotieren und reiner Ausdruck von Engagement und Protest gegen Missstände sein. Dafür setzte Lurie andere Techniken ein, etwa Siebdruck und Collage. Als „Werkstoff“ klebte er vor allem unzählige pin-ups aneinander, oft kombiniert mit Pressefotos von Leichenbergen und anderen NS-Hinterlassenschaften; teils zerknittert oder sonstwie beschädigt, übermalt und beschrieben. Ein Palimpsest aus trash der Massenmedien; eine Müllhalde billiger Reize, überwältigend in ihrer schieren Fülle und belanglos im Detail.

 

Dauererregung lässt gleichgültig werden

 

Greller und drastischer lässt sich der optische output der Wegwerfgesellschaft kaum recyclen; darin war Lurie der Bilderflut des internet ein halbes Jahrhundert voraus. Zugleich macht sein Verfahren eine Aporie anschaulich: Durch ihre Anhäufung neutralisieren sich alle Signale gegenseitig. Die Wiederholung starker Zeichen schwächt sie ab bis zur Bedeutungslosigkeit. Diese Kunst schlägt ständig Alarm, doch solche Dauererregung lässt das Publikum eher ratlos und gleichgültig zurück – angesichts eines Rundumschlags, der auf nichts Konkretes zielt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Obsessionen" von R.B. Kitaj, des jüdischen Malers der "School of London", in Berlin + Hamburg

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung „Radical Jewish Culture“ über New Yorks Knitting-Factory-Musikszene der 1990er Jahre im Jüdischen Museum, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Jason Rhoades: Four Roads" - Mega-Trash-Installationen des 2006 verstorbenen US-Künstlers in der Kunsthalle Bremen

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung Poesie der Großstadt – Die Affichisten mit Plakatabriss-Kunst der 1950/60er Jahre in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/ Main.

 

Das wird noch deutlicher an Arbeiten, bei denen Lurie sich auf wenige Symbole beschränkt. Etwa gelbe Juden- und Davidsterne, die er scheinbar wahllos diversen Objekten anheftete; oder den Versalien NO, mit denen er alle möglichen Bilder überpinselte. Damit verwandelte er seine Ablehnung des schlechten Bestehenden in ein Markenzeichen – seriell reproduzierbar wie Andy Warhols hemmungslos vermarktete Siebdrucke oder die hoch gehandelten „Combine Painting“-Collagen eines Robert Rauschenberg.

 

Börse finanziert Weltverachtung

 

Ähnlich ambivalent erscheint Luries Fixierung auf erotische Nacktfotos, mit denen er die Wände seines Ateliers pflasterte. Ihre inflationäre Verwendung rechtfertigte er mit Kritik am kapitalistischen Sexismus und der Verdinglichung von Frauen zu Waren – doch seine Obsession macht ihn zugleich zu dessen bestem Kunden. Was ihm bewusst war: „Wir wollten das Vulgäre in uns genauso darstellen, anprangern, unterstreichen, wie das Vulgäre um uns herum.“ Auch dabei sprengte er alle Fesseln: Seine bondage-Bilder der „Love Series“ zeigen harten SM.

 

Hier treibt jemand den Teufel in effigie mit dem Beelzebub aus – vielleicht getrieben von ohnmächtigem Selbsthass, der ihn dazu verdammt, das Verabscheute zu wiederholen. Zumindest nötigte Lurie niemanden, seine Exerzitien zu finanzieren; er behielt seine Werke für sich. Verkäufe hatte er nicht nötig: Das Erbe seines 1964 gestorbenen Vaters investierte er erfolgreich an der Börse. Dadurch häufte er Millionen an – als überzeugter Linksradikaler: „Meine Sympathie ist mit der Maus, aber ich füttere die Katze“. Allumfassenden Weltekel muss man sich eben leisten können.