In your face: Die Kunst des Boris Lurie (1924-2008) springt dem Betrachter förmlich ins Gesicht. Sie brüllt ihn lautlos an, haut ihm Zeichen und Botschaften um die Ohren, quält mit schneidenden Dissonanzen und fiesen Kontrasten. Sie ist quasi ein endlos variierter, aber kaum modulierter Schrei – das visuelle Pendant zu grindcore oder death metal in voller Lautstärke.
Info
Keine Kompromisse!
Die Kunst des Boris Lurie
26.02.2016 - 31.07.2016
täglich 10 bis 20 Uhr, montags bis 22 Uhr
im Jüdischen Museum, Lindenstraße 9-14, Berlin
Begleitband 29 €
Mit Vater in vier KZs interniert
Dagegen hat Lurie weder Kontroversen noch Eklats gescheut, sondern sie geradezu gesucht, ja provoziert. Weil er das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts er- und überlebt hatte: die industrielle Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Als Kind wohlhabender jüdischer Eltern wuchs er in Riga auf. 1941 erschossen deutsche Besatzer seine Mutter, Schwester, Großmutter und Jugendliebe; er und sein Vater wurden in vier Konzentrationslagern interniert. 1946 wanderten beide nach New York aus, wo Lurie bis ans Lebensende wohnte.
Impressionen der Ausstellung
Deformierte Körper à la Francis Bacon
Das Trauma des holocaust prägt sein gesamtes Werk. Angefangen mit figurativen Zeichnungen und Ölgemälden, die er bald nach seiner Ankunft in den USA anfertigte; sie stellen das Grauen des Lager-Alltags in zahllosen Variationen dar. Währenddessen schockierte Lurie, wie die Enthüllungen des KZ-Systems von der US-Gesellschaft aufgenommen wurde: beiläufig und oberflächlich, von Katharsis keine Spur. Illustrierte druckten Fotoreportagen aus befreiten KZs neben Reklame für Konsumartikel.
Dieses monströse Nebeneinander schreiender Gegensätze machte Lurie zu seinem künstlerischen Prinzip. In den 1950er Jahren noch auf konventionellen Tafelbildern: In den „Dance Hall Series“ porträtierte er Eintänzerinnen als einsame Erscheinungen in rauchigen Höhlen. Seine „Dismembered Women“ sind aufgeblähte, deformierte Frauengestalten nahe der Auflösung; ähnlich den versehrten Körpern, mit denen Francis Bacon zur gleichen Zeit berühmt wurde.
Collagen aus pin-up-Fotos + Leichenbergen
Doch diese Grotesken waren Lurie nicht radikal genug – zudem empfand er den Abstrakten Expressionismus und die aufkommende Pop Art, die das zeitgenössische US-Kunstgeschehen dominierten, als zu gefällig und kommerziell. 1959 gründete er mit Sam Goodman und Stanley Fisher, die leider in der Schau kaum auftauchen, die Bewegung NO!art. Das Trio veranstaltete bis 1964 wüste Galerie-Spektakel mit Titeln wie „Vulgar Show“ oder „Doom Show“; an ihnen nahmen bekannte Kollegen wie happening-Pionier Allan Kaprow oder Fluxus-Vordenker Wolf Vostell teil.
Die NO!art sollte den Kunstmarkt sabotieren und reiner Ausdruck von Engagement und Protest gegen Missstände sein. Dafür setzte Lurie andere Techniken ein, etwa Siebdruck und Collage. Als „Werkstoff“ klebte er vor allem unzählige pin-ups aneinander, oft kombiniert mit Pressefotos von Leichenbergen und anderen NS-Hinterlassenschaften; teils zerknittert oder sonstwie beschädigt, übermalt und beschrieben. Ein Palimpsest aus trash der Massenmedien; eine Müllhalde billiger Reize, überwältigend in ihrer schieren Fülle und belanglos im Detail.
Dauererregung lässt gleichgültig werden
Greller und drastischer lässt sich der optische output der Wegwerfgesellschaft kaum recyclen; darin war Lurie der Bilderflut des internet ein halbes Jahrhundert voraus. Zugleich macht sein Verfahren eine Aporie anschaulich: Durch ihre Anhäufung neutralisieren sich alle Signale gegenseitig. Die Wiederholung starker Zeichen schwächt sie ab bis zur Bedeutungslosigkeit. Diese Kunst schlägt ständig Alarm, doch solche Dauererregung lässt das Publikum eher ratlos und gleichgültig zurück – angesichts eines Rundumschlags, der auf nichts Konkretes zielt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Obsessionen" von R.B. Kitaj, des jüdischen Malers der "School of London", in Berlin + Hamburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung „Radical Jewish Culture“ über New Yorks Knitting-Factory-Musikszene der 1990er Jahre im Jüdischen Museum, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Jason Rhoades: Four Roads" - Mega-Trash-Installationen des 2006 verstorbenen US-Künstlers in der Kunsthalle Bremen
und hier einen Beitrag über die Ausstellung „Poesie der Großstadt – Die Affichisten“ mit Plakatabriss-Kunst der 1950/60er Jahre in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/ Main.
Börse finanziert Weltverachtung
Ähnlich ambivalent erscheint Luries Fixierung auf erotische Nacktfotos, mit denen er die Wände seines Ateliers pflasterte. Ihre inflationäre Verwendung rechtfertigte er mit Kritik am kapitalistischen Sexismus und der Verdinglichung von Frauen zu Waren – doch seine Obsession macht ihn zugleich zu dessen bestem Kunden. Was ihm bewusst war: „Wir wollten das Vulgäre in uns genauso darstellen, anprangern, unterstreichen, wie das Vulgäre um uns herum.“ Auch dabei sprengte er alle Fesseln: Seine bondage-Bilder der „Love Series“ zeigen harten SM.
Hier treibt jemand den Teufel in effigie mit dem Beelzebub aus – vielleicht getrieben von ohnmächtigem Selbsthass, der ihn dazu verdammt, das Verabscheute zu wiederholen. Zumindest nötigte Lurie niemanden, seine Exerzitien zu finanzieren; er behielt seine Werke für sich. Verkäufe hatte er nicht nötig: Das Erbe seines 1964 gestorbenen Vaters investierte er erfolgreich an der Börse. Dadurch häufte er Millionen an – als überzeugter Linksradikaler: „Meine Sympathie ist mit der Maus, aber ich füttere die Katze“. Allumfassenden Weltekel muss man sich eben leisten können.