Ulrike Ottinger

Chamissos Schatten – Eine Reise zur Beringsee in drei Kapiteln

Lagunenlandschaft im Polarmeer, Szenenbild aus "Chamissos Schatten", © Ulrike Ottinger. Foto: Real Fiction
(Kinostart: 26.5.) Im letzten und besten Teil ihrer zwölfstündigen Polarmeer-Saga besucht Regisseurin Ottinger das Grab von Vitus Bering auf der nach ihm benannten Insel und bereist Kamtschatka – dort traut sie sich leider kaum an die 29 aktiven Vulkane heran.

Polarreise als Pauschalpaket

 

Diese Zurückhaltung mag Zeitmangel geschuldet sein; das kleine Filmteam ist an die Schiffsfahrpläne gebunden. Doch nach einer Weile fühlt man sich wie auf einer Kreuzfahrt: Nach gemächlichen Stunden auf See folgen knapp bemessene Landgänge. Bei denen wird vorab Arrangiertes vorgeführt, etwa Auftritte von Folklore-Tanzgruppen. Kaum hat man sich ein wenig umgesehen, muss man schon wieder weg; meist zum nächsten ausgiebigen Strand-Picknick.

 

Am interessantesten sind daher Passagen, in denen die Sprecher 200 bis 280 Jahre alte Ortsbeschreibungen und Begebenheiten vortragen – während die Kamera zeigt, wie es dort heute aussieht. Doch diese Parallelführung von Geschichte und Gegenwart bleibt inkonsequent: Selten erklärt Ottinger, wo genau sie sich befindet, oder blendet Karten zum Reiseverlauf ein. Ihr kommt es vor allem auf Einfühlung in diese fremde Lebenswelt an; als traue sie ihrem Publikum nicht zu, sich für präzise Details zu interessieren. Eine Polarreise als Pauschalpaket.

 

Orthodoxie schützt vor Pelzjägern

 

Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten fallen die einzelnen Filme recht unterschiedlich aus. Da empfiehlt sich, auf jeden etwas näher einzugehen. Im ersten Film über Alaska und die Aleutischen Inseln hält sich Ottinger mit der Hauptstadt Anchorage kaum auf. Sie besucht das nahe gelegene Eklutna; einst eine bedeutende Siedlung, mittlerweile ein winziges Dorf. Auf seinem Friedhof stehen lauter kleine Geisterhäuser für die Seelen der Verstorbenen.

 

Ihr Führer ist ein orthodoxer Priester. Die Bewohner wurden von russischen Missionaren christianisiert und bekennen sich zu deren Konfession: Die Geistlichen schützten sie halbwegs vor russischen Pelzjägern, die sie versklaven wollten. Damals waren sie Untertanen des Zaren, bis er Alaska 1867 an die USA verkaufte. Auf den Aleuten (den Inseln) findet Ottinger noch viele russisch-orthodoxe Kirchen mit ihren charakteristischen Zwiebeltürmen; der Lebensstil der Aleuten (die Einwohner) hat sich jedoch erwartbar amerikanisiert.

 

Robbe wird eine Stunde lang zerlegt

 

Im zweiten Film setzt Ottinger über zur russischen Halbinsel Tschukotka. In der Hafenstadt Prowidenija erwarten sie sowjetische Plattenbauten und ein agiler Stadtmuseums-Direktor, der in fließendem Englisch die Eigenheiten der Region erklärt. Dann geht sie mit Motorbooten auf Robbenjagd: Beim ersten Anlauf versinkt das erlegte Tier in der Meerestiefe, der zweite klappt. Nun der Härtetest: Eine geschlagene Stunde lang muss man in Echtzeit zusehen, wie der Kadaver fachmännisch ausgeweidet und filetiert wird.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films Unter Schnee – Dokudrama über Traditionen in Nordjapan von Ulrike Ottinger

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Ulrike Ottinger: Floating Food" – große Werkschau im Haus der Kulturen der Welt, Berlin

 

und hier einen Beitrag über den Film “How I ended this summer” – brillantes Psycho-Duell auf russischer Polarstation von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären 2010.

Wem das nicht reicht, der bekommt einen Nachschlag: Im dritten Film wird ein Rentier, das eben noch mit seinen Artgenossen äste, geschlachtet und gehäutet. In nur 30 Minuten; auf festem Boden geht es fixer. Danach werden ausgedehnt Einheimische interviewt, die ebenso gedehnt antworten: Tschuktschen gelten in Russland als Hinterwäldler und spielen in Witzen dieselbe Rolle wie hierzulande Ostfriesen. Ein Abstecher zur Wrangelinsel fällt fast ins Wasser; wegen schlechten Wetters muss Ottinger schleunigst umkehren.

 

Abschied mit der Fisch-Mafia

 

Dagegen verweilt sie im vierten Film ausgiebig auf der Beringinsel. Ihr Entdecker, nach dem sie benannt ist, starb hier 1741; seine Gebeine wurden erst 1991 gefunden und regulär bestattet. Anschließend fährt das Schiff an der Küste von Kamtschatka entlang nach Süden; vorbei an Buchten, an denen sich Tausende von Seelöwen paaren. Die mehr als 160 Vulkane der Halbinsel, davon 29 aktive, sind meist nur aus der Ferne zu sehen.

 

Nur wenige Minuten wagt sich die Kamera über schwarze Lava-Felder näher an die rauchenden Kegel heran. Gefahrloser geht es in der Hauptstadt Petropawlowsk zu. Doch auch hier belässt es Ottinger bei einem Schwenk über den Hafen und Bummel durch einen Supermarkt – samt Begutachtung der Sonderangebote in der Fischtheke. Zum Abschluss begegnen wir der maritimen Mafia, die von Fischern Schutzgelder erpresst: So stellen sich bei der Rückkehr in zivilisierte Breiten sofort auch wieder ihre Schattenseiten ein.

 

Unterkühlter Trance-Zustand

 

Ein unsanftes Erwachen aus einer Art unterkühltem Trance-Zustand, in die einen stundenlanges Betrachten von Felsformationen und Fischragout-Plaudereien versetzt hat. Lohnt sich diese Langzeit-Beobachtung? Manche Passagen durchaus, falls man sich für Landstriche interessiert, die man ansonsten wohl nie zu Gesicht bekäme. Doch als Gesamt-Komposition ist diese willkürliche Aneinanderreihung langatmiger Sequenzen viel zu ausufernd. Hätte Ottinger die prägnantesten Szenen im Schnitt auf die Hälfte oder ein Drittel der Laufzeit verdichtet, wäre ihr ein Doku-Meilenstein gelungen – wenn sie dafür auf den Rekord des längsten Berlinale-Beitrags aller Zeiten verzichtet hätte.