Ein ausgefeiltes Wortspiel steckt schon im Titel: „Remainder“ ist ein Überbleibsel, ein Übriggebliebener wie die Hauptfigur. Das klingt phonetisch fast wie „Reminder“ – die inflationär verschickte Erinnerungs-Mitteilung des email-Zeitalters. Nur ein Buchstabe unterscheidet beide Begriffe, doch sie fassen in nuce den gesamten Film zusammen. Ein Überlebender sucht nach seinen Erinnerungen – a remainder is looking for reminders.
Info
Remainder
Regie: Omer Fast,
97 Min., Großbritannien/ Deutschland 2015;
mit: Tom Sturridge, Cush Jumbo, Arsher Ali, Ed Speelers
8,5 Millionen Pfund Schmerzensgeld
Gewiss ist nur: Der Protagonist Tom (Tom Sturridge) spielt ein Spiel. Es lässt sich ebenso leicht nacherzählen wie die gesamte Geschichte – ohne dass sie dadurch ebenso leicht verständlich würde. Etwas fällt vom Himmel, prallt auf Toms Kopf und versetzt ihn ins Koma. Als er aufwacht, hat er seine Erinnerung und Identität fast völlig verloren. Dafür ist er bald um 8,5 Millionen britische Pfund reicher: Soviel Entschädigung zahlt ihm der Auftraggeber eines Anwalts, wenn er für immer Stillschweigen über den Unfall bewahrt.
Offizieller Filmtrailer
Haus voller Statisten mit Wiederholungszwang
Nun gibt es etliche Filme über Amnesie und Realitätsverlust. Außergewöhnlich ist aber, was der Held der Romanvorlage von Tom McCarthy daraus macht: Er verwendet sein Vermögen darauf, seine Erinnerungsfetzen originalgetreu nachzubauen – in der Hoffnung, dass sich bei diesem re-enactment auch das Vergessene wieder einstellen werde. Das ist eine geläufige Methode der Trauma-Therapie, doch wohl noch nie wurde sie so aufwändig umgesetzt.
Tom kauft ein ganzes Haus und setzt die bisherigen Bewohner vor die Tür. Stattdessen engagiert er Statisten, die exakt das tun müssen, woran er sich schemenhaft erinnert: Eine alte Dame brutzelt pausenlos Leber auf ihrem Herd. Ein Pianist klimpert unentwegt dieselbe Melodie. Selbst Katzen werden auf dem Nachbardach so platziert, wie Tom es vermeintlich einst gesehen hat – und durch neue ersetzt, wenn sie herunterfallen.
Ambivalente Akteure + abgeschirmte Drohnen-Piloten
Der Spieler als Weltenschöpfer, als Herr über Leben und Tod; seine rechte Hand Naz (Arsher Ali), ein distinguierter consulting agent, dirigiert dieses künstliche Universum mithilfe von Videokameras. Beide können jedoch einige Akteure nicht kontrollieren; etwa Greg (Ed Speelers), der als Toms alter Freund auftritt, aber an dessen Gebaren vermeintlich verzweifelt. Oder die schöne Catherine (Cush Jambo) – war sie früher Gregs und ist sie jetzt Toms Geliebte, oder umgekehrt? Und die zwei Lederjackenträger, die Tom nachstellen: Sind sie Unterwelt-Schurken, die an sein Geld wollen, oder Ermittler – oder gehen ihre Rollen ineinander über?
Der israelische Regisseur Omer Fast, der seit Jahre in Berlin lebt und fließend Deutsch spricht, ist ein renommierter Videokünstler. In seinen Arbeiten beleuchtet er oft einen Ausschnitt der Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven: „5000 Feet is the Best“ porträtiert Piloten der US-Army, die von abgedunkelten Büros in Las Vegas aus Drohnen steuern, mit denen sie Tausende von Kilometern entfernte Zielpersonen töten. Die Aussagen der Soldaten sind echt, die Aufnahmen am Einschlagsort der Flugkörper inszeniert.
Verwirrspiel treiben, ohne zu übertreiben
Ähnlich „Everything That Rises Must Converge“ über den Arbeitsalltag von Porno-Darstellern: Vom Aufstehen und Frühstück über die Fahrt zum Drehort bis zur Orgie vor laufenden Kameras stimmt alles. Zwischendurch wird ein Filmproduzent interviewt, der behauptet, er sei in einer hippie-Kommune mit Gruppensex aufgewachsen und wolle deren libertären spirit mit anderen Mitteln verbreiten – diese plausibel argumentierende Person ist erfunden.
Hintergrund
Lesen Sie hier das Interview "Genug Geld für Koks + Stripperinnen" mit Omer Fast über "Remainder"
und hier eine Rezension der Ausstellung "Creating Realities – Begegnungen zwischen Kunst und Kino" mit dem Beitrag "Continuity" von Omer Fast in der Pinakothek der Moderne, München
und hier einen Bericht über das Festival "Kino der Kunst 2015" mit dem Beitrag "Everything That Rises Must Converge" von Omer Fast in München
und hier einen Beitrag über das Festival "Kino der Kunst 2013" mit dem Beitrag "5000 Feet is the Best" von Omer Fast in München.
Lob der Endlosschleife
So wird der Film zum raffinierten Vexierbild, das deutlich werden lässt, wie flach und eindimensional sonstiges Augenfutter der Unterhaltungsindustrie meist ist. Deren cheap thrills zitiert auch Omer Fast lustvoll herbei: Das immer gefährlichere und kriminellere Treiben driftet in Richtung psycho thriller. Zum Schluss wird wirklich gestorben; damit endet auch jede Spielerei. Bloß: Darauf kommt es gar nicht an. Entscheidend ist, dass der Spielleiter aus den selbst aufgestellten Regeln die äußersten Konsequenzen zieht. Jedes Spiel simuliert das wahre Leben.
Und jeder gute Spielfilm treibt es über sich hinaus, um ungeahnte Aspekte zu enthüllen. Dann darf er auch als Wiederkehr des Gleichen enden, quasi als Kino-Möbiusband. „Unbegreiflich bleibt es für meinen Verstand, eine Endlosschleife: das Möbiusband“ sang das ostdeutsche Avantgarde-Quartett „AG Geige“– natürlich als Endlosschleife. Mit diesem loop begann 1989 ihre Debüt-LP: die schrägste und seltsamste Platte, die je in der DDR erschienen ist. Ein Vierteljahrhundert später leistet Omer Fast das Nämliche fürs europäische Autorenkino.