Vielleicht kann einem Dokumentarfilm-Regisseur nichts besseres passieren, als dass sein Thema während der Dreharbeiten ein Eigenleben entwickelt, das seinem Projekt eine überraschende Richtung gibt. So ist es der iranischen Filmemacherin Rokhsareh Ghaem Maghami mit ihrer Heldin Sonita Alizadeh ergangen.
Info
Sonita
Regie: Rokhsareh Ghaem Maghami,
91 Min., Iran/ Deutschland 2015;
mit: Sonita Alizadeh
Tochter von Michael Jackson + Rihanna
Bereits beim Rollenspiel, in dem Sonita ihre Flucht aus Afghanistan nachinszeniert, verblüfft ihr Talent zur Regieführung. Kein Wunder, dass Regisseurin Maghami von ihr fasziniert ist. Zwar führt Sonita mit ihrer Schwester und deren Tochter ein prekäres Leben in einer fremden Großstadt, doch sie ist ehrgeizig: Ihre Wunscheltern wären die popstars Michael Jackson und Rihanna; ihr Berufswunsch ist, rapper zu werden.
Offizieller Filmtrailer
Tochter für 9000 Dollar verkaufen
Zunächst begleitet die Kamera sie und ihren musikalischen Partner auf der Suche nach einem Tonstudio, in dem sie ein Demo produzieren können. Das ist nicht leicht. Ohne behördliche Genehmigung darf nichts aufgenommen werden – schon gar nicht eine Frau, die solo singt oder rappt. Andere zweifeln schlicht an Sonitas Talent.
Schließlich findet sie zwei mutige Toningenieure, die erkennen, dass Sonita nur etwas Übung braucht. Nun wird Sonita von ihrem familiären Hintergrund eingeholt: Ihre Mutter taucht in Teheran auf und kündigt an, sie zurück nach Afghanistan zu holen. Ihr älterer Bruder soll heiraten, doch der Brautpreis, der ihm abverlangt wird, ist hoch. Daher müsse zunächst seine jüngere Schwester verheiratet werden, um das nötige Geld zu aufzutreiben: 9000 US-Dollar.
Original-Youtube-Videoclip "...brides for sale" von Sonita
Mutter mit 2000 US-Dollar vertröstet
Alle sind konsterniert; auch die Leiterin der Hilfseinrichtung vermag die Mutter nicht umzustimmen. Regisseurin Maghami muss eine Entscheidung treffen: Bisher hat sie sich als Filmemacherin nicht in das Leben ihrer Hauptfigur eingemischt. Nun wird sie selbst zur Akteurin: Sie treibt 2000 US-Dollar für die Mutter auf, um ein paar Monate Zeit zu gewinnen.
Zeit für was? Die Antwort gibt Sonita selbst. Im Interview mit der Regisseurin hat sie den Spieß umgedreht und sie mit Fragen bombardiert: Wie funktioniert die Kamera? Kann ich das auch, dich filmen? Und dann: Kann man damit einen video clip drehen? Man kann: Sonita hat bereits jede Einstellung im Kopf.
500.000 Youtube-Klicks in einem Jahr
Hintergrund
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und hier einen Bericht über den Film "Ein Junge namens Titli" – brillanter Kleingangster-Krimi über Zwangsheirat in Indien von Kanu Behl
und hier einen Beitrag über den Film "Der Junge Siyar" – Drama über Zwangsheirat + Ehrenmord unter irakischen Kurden im Exil von Hisham Zaman.
Nicht zuletzt diese unvorhersehbare Wendung macht den Dokumentarfilm so wuchtig: Die Dynamik der Ereignisse kommt ohne Off-Kommentare, Verkitschung oder symbolischen Überhöhung der Hauptfigur aus. Sonitas unbedingter Wille zur Freiheit bestimmt das emotionale Klima des Filmes, dazu die Solidarität starker Frauen im Kampf um Selbstbehauptung.
Teheran in knalligen Digital-Farben
Auf diese Weise öffnet der Film bei jedem Zuschauer eigene Assoziationsräume. Das westliche Publikum erhält zudem Einblicke in eine Sicht auf Teheran, die selten zu sehen ist: aus der Perspektive einer Geflüchteten. Der ungewohnte Blinkwinkel wird durch die digitale Farbpalette noch verstärkt: Knallige Töne bilden einen starken Kontrast zum Schwefelgelb, in das Hollywood-Filme die Region gerne einfärben, oder die kontrastarmen Einstellungen der auf Festivals gefeierten iranischen Autorenfilmer.
Im weiteren Verlauf des Films reist Sonita nach Afghanistan, um an einen regulären Pass zu heranzukommen, und fliegt in die Vereinigten Staaten: Eine US-Universität hat ihr ein Stipendium angeboten. Ob sie bald Karriere als Sängerin macht oder nicht, wird man vermutlich aus westlichen Medien erfahren – Rokshareh Ghaem Maghamis glänzender Film steht für sich allein.