
Mit einem martialischen Paukenschlag wurde Kader Attia, Franzose algerischer Herkunft, 2012 im Kunstbetrieb bekannt. Auf der documenta 13 in Kassel füllte seine Groß-Installation „The Repair“ im Haupt-Ausstellungsgebäude Fridericianum einen ganzen Saal: Auf Regalen und in Vitrinen war jede Menge Memorabilia aus dem Ersten Weltkrieg ausgebreitet.
Info
Kader Attia -
Sacrifice and Harmony
16.04.2016 - 14.08.2016
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 20 Uhr
im MMK 1 , Museum für Moderne Kunst, Domstr. 10, Frankfurt am Main
Katalog 44 €
Sichtbare Spiegel-Reparatur
Den formulierte Attia bei seiner ersten deutschen Einzelausstellung 2013 im Berliner „KW Institute for Contemporary Art“ enzyklopädisch aus: Mit einer „5 Akte“ betitelten Symphonie des Grauens, das in den Archiven schlummert. Stapel vergilbter Bücher, Flugschriften und Werbetafeln aus der Kolonialzeit kontrastierte er mit Schaukästen voller afrikanischer Masken und westlichen Tier-Präparaten – zwei verschiedenen Formen der Naturbeherrschung. Sowie grob geflickten Spiegeln: als Sinnbildern einer „Reparatur“, deren Male sichtbar bleiben.
Feature mit Statements von MMK-Direktorin Susanne Gaensheimer, Kader Attia + Impressionen der Ausstellung; © MMK
Wie Uni-Handbibliothek + ARTE-Themenabend
Für die aktuelle Werkschau im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) fährt Attia noch mehr auf. Als Ouvertüre muss der Besucher durch einen langen Tunnel hindurchgehen: den Nachbau einer Ladenstraße in Hebron. Die Geschäfte gehören Palästinensern; über ihnen wohnen jüdische Siedler, die ihren Müll aus dem Fenster werfen, wogegen sich die Araber mit Drahtgittern schützen: Nahost-Konflikt aus der Tunnel-Perspektive.
Das bizarre readymade erklärt sich nicht von selbst; dafür hängt Attia Ausdrucke von Berichten aus dem Internet an die Wände. Und legt allerlei Fachliteratur zur Gefängnis-Architektur aus; wie bei einer Uni-Handbibliothek zum Klassiker „Überwachen und Strafen“ (1975) des Philosophen Michel Foucault. Ebenso didaktisch geht es weiter: In Video-Interviews sprechen sechs Gelehrte über diverse Fragen zu rationalem und magischem Denken, Gewalt und Trauma. Das wäre en suite ein tiefschürfender Themenabend auf ARTE.
Holz-Invaliden schauen Antikriegsfilm an
Dagegen beschränkt sich der Künstler meist darauf, Fundstücke zu arrangieren. Wie in „Intifada: The Endless Rhizomes of Revolution“: Zuerst eine Presseschau mit Zeitungsseiten über den „Arabischen Frühling“ und sein Verblühen in Diktatur und Terror; dann ein Wald aus Baum-Skulpturen, an denen Zwillen hängen, mit denen Protestierer Steine schleudern. Sie sollen Hoffnung auf Befreiung symbolisieren: ein an geistiger Schlichtheit kaum zu überbietender Kommentar zum komplexesten Großkonflikt der Gegenwart.
Eindimensional erscheint gleichfalls der Einsatz von Kriegsinvaliden-Holzbüsten. Früher platzierte Attia sie punktuell, nun baut er ein gutes Dutzend davon auf: Als stumme Zuschauer von Ausschnitten des Kino-Klassikers „J’accuse – Ich klage an“ in der zweiten Fassung von 1938. Darin ließ Regisseur Abel Gance die Toten aus den Schützengräben mit Überblendungen quasi als Wiedergänger auferstehen – sein Antikriegs-Fanal beeindruckt bis heute. Auch ohne hölzerne Pappkameraden als Publikum.
Gigantomanie wie bei Ai Weiwei
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung „Kader Attia - Reparatur – 5 Akte“ – Werkschau von Kader Attia im KW Institute for Contemporary Art, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung “Ai Weiwei – Evidence” – bislang größte Ausstellung des Künstlers im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier einen Bericht über die Kunstmesse "dOCUMENTA (13) - Rundgang durch das Fridericianum" – mit Werken von Kader Attia in Kassel 2012.
Diese Materialschlacht, die einfache Beobachtungen und Befunde ad nauseam durchspielt, erinnert an die Kunst von Ai Weiwei: Seine ersten Kurzschlüsse westlicher Konzepte mit chinesischen Materialien überraschten durch erhellende Ergebnisse. Mit dem Erfolg kam der Hang zur Gigantomanie: ein Haus der Kunst in München voller Rucksäcke, eine Tate Gallery in London voller Sonnenblumen-Kerne, ein Martin-Gropius-Bau in Berlin voller Holzschemel.
Halbierte Halbwertzeit
Mittlerweile scheint Ai in einer Selbstwiederholungs-Schleife gefangen: Wenn er Tausende von Rettungswesten auftürmen lässt, die zuvor Flüchtlinge trugen, wirkt das wie makabrer breaking news-Bombast ohne ästhetischen Mehrwert. Ähnlich kommt Attias Werkschau daher. Wen Überwältigung durch schiere Masse nicht schreckt, der mag im MMK Neues für sich entdecken. Bedenklich stimmt aber, wie sich das Prinzip der Erschöpfung durch Eigenplagiate beschleunigt: Von seinem Durchbruch 2007 auf der documenta 12 bis heute brauchte Ai noch neun Jahre – Attia nur vier.