Frankfurt am Main

Kader Attia – Sacrifice and Harmony

Kader Attia: J'Accuse, 2016, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Courtesy Kader Attia and Galerie Nagel Draxler, Foto: MMK / Axel Schneider
Materialschlacht bis zur Erschöpfung durch Eigenplagiate: Der Franko-Algerier Kader Attia legt in Groß-Installationen ungeahnte Verbindungen zwischen Europa und Afrika frei. Seine Werkschau im MMK gerät aber zum Overkill der Selbstüberbietung.

Mit einem martialischen Paukenschlag wurde Kader Attia, Franzose algerischer Herkunft, 2012 im Kunstbetrieb bekannt. Auf der documenta 13 in Kassel füllte seine Groß-Installation „The Repair“ im Haupt-Ausstellungsgebäude Fridericianum einen ganzen Saal: Auf Regalen und in Vitrinen war jede Menge Memorabilia aus dem Ersten Weltkrieg ausgebreitet.

 

Info

 

Kader Attia -
Sacrifice and Harmony

 

16.04.2016 - 14.08.2016

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

mittwochs bis 20 Uhr

im MMK 1 , Museum für Moderne Kunst, Domstr. 10, Frankfurt am Main

 

Katalog 44 €

 

Weitere Informationen

 

Da lagen Hurra-Kitsch und Utensilien wie Bilderrahmen und Besteck aus recycletem Militärschrott; daneben hinge alte Fotos von Kriegsversehrten, deren furchtbar entstellte Konterfeis als überlebensgroße Holzbüsten nachgebildet waren. All diese Dinge hatten afrikanische Handwerker vor 100 Jahren oder ihre heutigen Nachfahren angefertigt. So erinnerte der Künstler daran, dass damals auf den Schlachtfeldern auch Schwarze mitkämpften – eine fast vergessener Aspekt des Kolonialismus.

 

Sichtbare Spiegel-Reparatur

 

Den formulierte Attia bei seiner ersten deutschen Einzelausstellung 2013 im Berliner „KW Institute for Contemporary Art“ enzyklopädisch aus: Mit einer „5 Akte“ betitelten Symphonie des Grauens, das in den Archiven schlummert. Stapel vergilbter Bücher, Flugschriften und Werbetafeln aus der Kolonialzeit kontrastierte er mit Schaukästen voller afrikanischer Masken und westlichen Tier-Präparaten – zwei verschiedenen Formen der Naturbeherrschung. Sowie grob geflickten Spiegeln: als Sinnbildern einer „Reparatur“, deren Male sichtbar bleiben.

Feature mit Statements von MMK-Direktorin Susanne Gaensheimer, Kader Attia + Impressionen der Ausstellung; © MMK


 

Wie Uni-Handbibliothek + ARTE-Themenabend

 

Für die aktuelle Werkschau im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) fährt Attia noch mehr auf. Als Ouvertüre muss der Besucher durch einen langen Tunnel hindurchgehen: den Nachbau einer Ladenstraße in Hebron. Die Geschäfte gehören Palästinensern; über ihnen wohnen jüdische Siedler, die ihren Müll aus dem Fenster werfen, wogegen sich die Araber mit Drahtgittern schützen: Nahost-Konflikt aus der Tunnel-Perspektive.

 

Das bizarre readymade erklärt sich nicht von selbst; dafür hängt Attia Ausdrucke von Berichten aus dem Internet an die Wände. Und legt allerlei Fachliteratur zur Gefängnis-Architektur aus; wie bei einer Uni-Handbibliothek zum Klassiker „Überwachen und Strafen“ (1975) des Philosophen Michel Foucault. Ebenso didaktisch geht es weiter: In Video-Interviews sprechen sechs Gelehrte über diverse Fragen zu rationalem und magischem Denken, Gewalt und Trauma. Das wäre en suite ein tiefschürfender Themenabend auf ARTE.

 

Holz-Invaliden schauen Antikriegsfilm an

 

Dagegen beschränkt sich der Künstler meist darauf, Fundstücke zu arrangieren. Wie in „Intifada: The Endless Rhizomes of Revolution“: Zuerst eine Presseschau mit Zeitungsseiten über den „Arabischen Frühling“ und sein Verblühen in Diktatur und Terror; dann ein Wald aus Baum-Skulpturen, an denen Zwillen hängen, mit denen Protestierer Steine schleudern. Sie sollen Hoffnung auf Befreiung symbolisieren: ein an geistiger Schlichtheit kaum zu überbietender Kommentar zum komplexesten Großkonflikt der Gegenwart.

 

Eindimensional erscheint gleichfalls der Einsatz von Kriegsinvaliden-Holzbüsten. Früher platzierte Attia sie punktuell, nun baut er ein gutes Dutzend davon auf: Als stumme Zuschauer von Ausschnitten des Kino-Klassikers „J’accuse – Ich klage an“ in der zweiten Fassung von 1938. Darin ließ Regisseur Abel Gance die Toten aus den Schützengräben mit Überblendungen quasi als Wiedergänger auferstehen – sein Antikriegs-Fanal beeindruckt bis heute. Auch ohne hölzerne Pappkameraden als Publikum.

 

Gigantomanie wie bei Ai Weiwei

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung Kader Attia - Reparatur – 5 Akte – Werkschau von Kader Attia im KW Institute for Contemporary Art, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Ai Weiwei – Evidence” – bislang größte Ausstellung des Künstlers im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Kunstmesse "dOCUMENTA (13) - Rundgang durch das Fridericianum" – mit Werken von Kader Attia in Kassel 2012.

 

Es geht auch eine Nummer kleiner: etwa bei Auto- und Motorrad-Teilen aus Plastik, die Drittwelt-Mechaniker mit Pappe ausgebessert haben – Improvisation ohne Werkstattgarantie. Oder bei afrikanischem Kunsthandwerk wie Masken und Trommeln, die Attia mit diversen Zusätzen spickt: culture clash-Variationen vom Flohmarkt. Sie bieten nur selten Einsichten über ungeahnte Kontakte zwischen beiden Kulturen: wie etwa bei der Gegenüberstellung von Edvard Munchs Bild „Der Schrei“ (1893) mit einer Maske der Pende im Kongo, die wie die Vorlage zum ikonischen Motiv aussieht.  

 

Diese Materialschlacht, die einfache Beobachtungen und Befunde ad nauseam durchspielt, erinnert an die Kunst von Ai Weiwei: Seine ersten Kurzschlüsse westlicher Konzepte mit chinesischen Materialien überraschten durch erhellende Ergebnisse. Mit dem Erfolg kam der Hang zur Gigantomanie: ein Haus der Kunst in München voller Rucksäcke, eine Tate Gallery in London voller Sonnenblumen-Kerne, ein Martin-Gropius-Bau in Berlin voller Holzschemel.

 

Halbierte Halbwertzeit

 

Mittlerweile scheint Ai in einer Selbstwiederholungs-Schleife gefangen: Wenn er Tausende von Rettungswesten auftürmen lässt, die zuvor Flüchtlinge trugen, wirkt das wie makabrer breaking news-Bombast ohne ästhetischen Mehrwert. Ähnlich kommt Attias Werkschau daher. Wen Überwältigung durch schiere Masse nicht schreckt, der mag im MMK Neues für sich entdecken. Bedenklich stimmt aber, wie sich das Prinzip der Erschöpfung durch Eigenplagiate beschleunigt: Von seinem Durchbruch 2007 auf der documenta 12 bis heute brauchte Ai noch neun Jahre – Attia nur vier.