Es beginnt mit einem Abschied: Die Kurdin Nigar (Zübeyde Ronahi) muss ihre alte Wohnung im Istanbuler Stadtteil Tarlabaşı verlassen. Ihr erwachsener Sohn Ali (Feyyaz Duman) nimmt sie in seinem eigenen Apartment auf: in einem Hochhaus-Wohnblock im Vorort Esenyurt, rund 35 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Info
Song of my Mother
Regie: Erol Mintaş,
103 Min., Türkei/ Deutschland 2014;
mit: Feyyaz Duman, Zübeyde Ronahi, Nesrin Cavadzade
Zwei Schulen + zwei Sprachen
Ali sorgt aufmerksam und liebevoll für seine Mutter, hat aber wenig Zeit für sie. Neben seinem Stundenpensum auf Türkisch an einer staatlichen Grundschule unterrichtet er noch ehrenamtlich kurdische Kinder in ihrer Muttersprache. Außerdem hat er literarische Ambitionen und muss sich darum kümmern, dass seine Manuskripte verlegt werden. Seine Freundin Zeynep (Nesrin Cavadzade) trifft er höchstens abends; obwohl sie Kurdin ist, sprechen beide Türkisch miteinander.
Offizieller Filmtrailer
Mama sitzt auf gepackten Koffern
Nigar ist keine pflegeleichte Mitbewohnerin: Ein altes kurdisches Lied geht ihr nicht aus dem Kopf. Sie behauptet, es stamme von einem traditionellen dengbej-Sänger, von dem weder Ali noch irgendwer sonst je gehört haben – und nötigt ihren Sohn, in Plattenläden und auf Flohmärkten danach zu suchen. Außerdem bildet sie sich ein, die Bewohner ihres anatolischen Dorfes, das sie vor Jahrzehnten wegen des Krieges gegen die PKK verlassen mussten, würden dorthin zurückkehren – und besteht darauf, ebenfalls zurückzureisen.
Bald sitzt Nigar buchstäblich auf gepackten Koffern; ihr Sohn kann ihr den unsinnigen Wunsch nicht ausreden. Überdies überrascht ihn Zeynep mit der Nachricht, sie sei schwanger. Was Ali vollends überfordert: Er fühlt sich nicht in der Lage, mit ihr eine Familie zu gründen – und enttäuscht damit seine Freundin zutiefst.
Beschränkter Horizont in Innenräumen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Bakur – North" – Doku über die PKK im anatolischen Untergrund von Çayan Demirel + Ertuğrul Mavioğlu
und hier eine Besprechung des Films "Mustang" – türkisches Zwangsheirats-Drama von Deniz Gamze Ergüven
und hier einen Beitrag über den Film “Once upon a time in Anatolia” – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan
und hier eine Besprechung des Films „Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters“ – Familienporträt kurdischer Aleviten in der Türkei von Orhan Eskiköy.
Ohnehin geizt der Regisseur mit Außenaufnahmen: Sein Sozialdrama spielt sich vorwiegend in Innenräumen mit ausführlichen Dialogen ab. Das mag den beschränkten Horizont von Mutter Nigar genauso widerspiegeln wie die begrenzten Spielräume der drei Hauptakteure, erschwert aber das Verständnis. Zumindest für Zuschauer, die weder Kurden noch Türken sind: Was die Protagonisten signalisieren, wenn sie in dieser oder jener Situation von einer Sprache zur anderen wechseln, bleibt in der Untertitelung unerfindlich.
Ausgeblendete Gentrifizierung
Zudem rückt Regisseur Mintaş das seinen Worten zufolge eigentliche Thema, Istanbuls Gentrifizierung, kaum ins Bild: Geschlossene Fensterläden und Bauschutt müssen als Andeutung dafür dienen, dass Tarlabaşı geräumt und abgerissen werden soll. Das mag dem türkischen Autorenfilm-Publikum so geläufig sein wie Konflikte zwischen analphabetischen Zuwanderern der ersten Generation mit ihren gut ausgebildeten Kindern, aber nicht dem hiesigen: Ist es sinnvoll, einen solchen Film in deutsche Kinos zu bringen?