Miguel Gomes

1001 Nacht – Teil 1: Der Ruhelose

Scheherazade rast im Motorboot übers Mittelmeer. Foto: Real Fiction Filmverleih
(Kinostart: 28.7.) Portugal als orientalischer Bilderbogen: Regisseur Miguel Gomes überträgt den Aufbau der arabischen Erzählungs-Sammlung auf sein Heimatland in der Dauerkrise – als burlesken Episoden-Reigen, der alle geläufigen Grenzen sprengt.

Mehr ist besser: Dem Trend zu epischen TV-Serien mit Dutzenden von Folgen begegnen manche Regisseure, indem sie ähnlich lange Filme auf die Leinwand wuchten. Im Berlinale-Wettbewerb lief ein achtstündiger Beitrag des philippinischen Regisseurs Lav Diaz. Die Polarmeer-Doku „Chamissos Schatten“ von Ulrike Ottinger im Berlinale-Forum dauerte sogar zwölf Stunden; sie kam anschließend in vier Teilen in deutsche Kinos.

 

Info

 

1001 Nacht –
Teil 1: Der Ruhelose

 

Regie: Miguel Gomes,

125 Min., Portugal 2015;

mit: Christa Alfaiate, Adriano Luz, Cristina Carvalhal

 

Weitere Informationen

 

Nun folgt die sechsstündige Portugal-Saga von Miguel Gomes. Sie hatte ihre Premiere auf dem Festival in Cannes und wird in drei Teilen gezeigt, die im Abstand von je zwei Wochen im Kino anlaufen. Gomes ist einer der experimentierfreudigsten Regisseure des heutigen Autorenkinos: Für „Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld“, eine raffinierte Film-im-Film-Parabel über das portugiesische Kolonialreich in Afrika, erhielt er auf der Berlinale 2012 den Alfred-Bauer-Preis für „neue Perspektiven der Filmkunst“.

 

Porträt aus Nachrichten-Meldungen

 

Was ihn offenbar ermunterte, sie noch weiter auszudehnen. Vom orientalischen Klassiker über die schöne Scheherazade, die 1001 Nächte lang den grausamen König Schahriyar mit Erzählungen unterhält, um zu überleben, übernimmt Regisseur Gomes nur den Aufbau in Episoden. Deren Inhalte hat er 2013/14 aus Nachrichten und Zeitungsmeldungen ausgewählt: für ein Porträt seines Heimatlands in der Dauerwirtschaftskrise.

Offizieller Filmtrailer


 

Regisseur flüchtet, Film-team jagt hinterher

 

Dessen Gelingen ist keine Frage von Leben und Tod wie beim literarischen Vorbild. Scheherazade beendete allnächtlich ihre Geschichten mit einem cliffhanger; um die Fortsetzung zu hören, verschob der Herrscher ihre Hinrichtung. Die droht Regisseur Gomes nicht, so dass ihn Spannungsbögen kaum kümmern: Seine Episoden setzen irgendwann ein, mäandern in Sprüngen voran und laufen irgendwie aus. Das passt zu einer Gesellschaft in tiefer Depression.

 

Schon der Auftakt spricht allen Kino-Konventionen Hohn: Der Regisseur persönlich beklagt seine Unfähigkeit, die triste Wirklichkeit in eine reizvolle Fabel zu kleiden – und macht sich flugs aus dem Staub; sein entgeistertes Film-team jagt hinterher. Prompt folgen körnige Doku-Aufnahmen, auf denen Arbeiter in einer Hafenstadt gegen die Schließung ihrer Werft protestieren; auf der Tonspur reden sie von Job- und Sinnverlust. Dann werden die Nester aggressiver Wespen ausgeräuchert; ein Schelm, wer dabei Symbolik vermutet.

 

Troika-Delegation mit Dauer-Erektionen

 

Mehr als 20 Minuten dauert dieses karge feature aus der Arbeitswelt, währenddessen man sich im falschen Film wähnt. Plötzlich wird alles anders: Bei strahlendem Sonnenschein braust Scheherazade im Motorboot über die Wellen, Bagdad liegt scheinbar am Mittelmeer, und die Logik schlägt Purzelbäume. Das portugiesische Personal schlüpft in Rollen aus arabischen Märchen – und sie stehen ihm bestens.

 

Da treten Gesandte der „Troika“ von EZB, IWF und EU als knickrige Pfeffersäcke auf, die der Regierung jeden Schritt diktieren – bis sie ein schwarzer Zauberer mit Wunder-spray in liebestolle lover verwandelt. Zu schön, um wahr zu sein: Um ihre Dauer-Erektionen loszuwerden, muss Lissabon vier Milliarden Euro Lösegeld zusammenkratzen.

 

Erinnerungen an Fellini, Buñuel + Pasolini

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "1001 Nacht – Teil 2: Der Verzweifelte" von Miguel Gomes

 

und hier eine Besprechung des Films "Tabu (2012) – Eine Geschichte von Liebe und Schuld" – Hommage von Miguel Gomes an den Stummfilm-Klassiker von F.W. Murnau

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Pasolini Roma" – exzellente Retrospektive über Leben + Werk von Pier Paolo Pasolini im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Beitrag über den Film "Chamissos Schatten" – zwölfstündige Doku über "Eine Reise zur Beringsee in drei Kapiteln" von Ulrike Ottinger.

 

Oder ein Hahn kommt vor Gericht, weil sein Krähen den Nachbarn ihren Schlaf raubt; der Richter versteht das Plädoyer des Tiers. Ein Mädchen hat den Gemeindewald angezündet, weil ihr Freund sie für eine andere verließ – ihr Herzensdrama wird als knapper SMS-Dialog eingeblendet. Wortreich organisiert der Gewerkschafter Luis (Adriano Luz) mit seiner punk-Assistentin Maria (Crista Alfaiate) ein kollektives „Bad der Prächtigen“ im Meer am Neujahrstag. Drei der Schwimmer sprechen ausführlich über ihren Abstieg in die Armut.

 

Das sind nur die Hauptfiguren und -erzählstränge. Darin tauchen noch viel mehr Gestalten und sujets auf: Kunterbunt wechselt Regisseur Gomes Schauplätze, Themen und Bildsprachen, als suche er für jede Sequenz einen anderen Blickwinkel. Was zuweilen an Frederico Fellinis Fabulierlust und die späten Filme von Luis Buñuel erinnert: im Ausreizen surrealer Situationen bis zur letzten Konsequenz. Oder an die „Trilogie des Lebens“ (1970-1974) von Pier Paolo Pasolini; auch er versuchte, die Legenden-Stoffe aus „1001 Nacht“ zu aktualisieren.

 

Absurdes Theater für die Gegenwart

 

Auf dessen Sinnlichkeit verzichtet Gomes aber völlig: Sein Episoden-Reigen ist eher absurdes Theater für die Gegenwart. Manchmal als Guckkasten-Bühne inszeniert, wenn etwa die Ärztin Sereia (Cristina Carvalhal) in einer schleimigen Katakombe praktiziert – als Sinnbild für Portugals kaputtgesparte Kliniken. Meist ist aber die Lebenswelt grotesk genug: Wenige Kostüme genügen, und schon läuft ein schräges Spektakel ab. Oder die Stationen einer Biographie, die unverschuldet an zu hohen Schulden gescheitert ist, werden nüchtern aufgezählt.

 

Wie kühn dieses Kaleidoskop aus Sozialreportage, Dokudrama, living theatre und Fantasie-Feuerwerk alle Schemata unserer durchformatierten Medienwelt sprengt, kann man kaum genug bewundern. Als Wechselbad der Eindrücke, das oft überrascht und amüsiert – aber auch riskiert, passagenweise zu langweilen oder zu befremden. Dem geduldig zu folgen, bedarf der Neugier von König Schahriyar: Regisseur Gomes hat noch zwei Teile und vier Stunden Zeit, um cineastisch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.