Gianfranco Rosi

Seefeuer – Fuocoammare

Insel-Arzt Dr. Pietro Bartolo zeigt Aufnahmen eines überfüllten Flüchtlings-Schiffs. Foto: Weltkino Filmverleih
(Kinostart: 28.7.) Die geteilte Mittelmeer-Insel: Auf Lampedusa gehen Bewohner ihrem Alltag nach, nebenan werden Flüchtlinge versorgt – beide Sphären berühren sich nirgends. Für seine Doku gewann Regisseur Gianfranco Rosi bei der Berlinale den Goldenen Bären.

Regisseur Gianfranco Rosi ist etwas Einmaliges gelungen: Binnen drei Jahren hat er auf zwei der wichtigsten Festivals, 2013 in Venedig und im Februar in Berlin, den Hauptpreis gewonnen – der jeweils zum ersten Mal an einen Dokumentarfilm vergeben wurde. „Seefeuer – Fuocoammare“ erhielt den Goldenen Bären der diesjährigen Berlinale.

 

Info

 

Seefeuer - Fuocoammare

 

Regie: Gianfranco Rosi,

108 Min., Italien/ Frankreich 2016;

mit: Samuele Pucillo, Mattias Cucina, Samuele Caruana

 

Website zum Film

 

Der italienische Titel hat zwei Bedeutungen. Erstens bezeichnet er Leuchttürme, zweitens eine historische Brandwaffe. Im oströmischen Reich wurde sie bei Schiffsschlachten eingesetzt, weil sie mit Wasser nicht gelöscht werden konnte; auf Deutsch wird sie „griechisches Feuer“ genannt. Auf Lampedusa war immer beides nötig: Die Vulkaninsel zwischen Sizilien und Tunesien, dessen Küste nur 70 Kilometer entfernt ist, weckte oft Begehrlichkeiten.

 

Schiffsuntergang mit 550 Opfern

 

Heutzutage ist Lampedusa vor allem als erste Anlaufstelle für Flüchtlinge bekannt, die über das Mittelmeer nach Europa einwandern wollen. In die Weltnachrichten kam die Insel, als 2013 ein Schlepper-Schiff mit fast 550 Menschen an Bord sank, von denen die meisten ertranken. Zwar sind solche Tragödien dank besserer Überwachung der Küstengewässer seltener geworden. Aber was genau geschieht auf Italiens südlichstem Außenposten, und wie leben die Bewohner damit?

Offizieller Filmtrailer


 

Zwölfjähriger als Hauptfigur

 

Dorthin reiste Gianfranco Rosi vor zwei Jahren, um einen Kurzfilm zu drehen. Stattdessen blieb der Dokumentarfilmer ein Jahr; er fuhr mit Fischern und Rettungskräften aufs offene Meer hinaus und beobachtete den Alltag der Insulaner und der Geflüchteten in den Auffangstationen. Sein fast zweistündiger Film mutet dem Zuschauer einiges zu, obwohl seine Grundhaltung unaufgeregt und menschlich integer wirkt. Wie in Rosis letztem Film „Sacro GRA“ über den Mikrokosmos von Anwohnern der Ring-Autobahn um die Hauptstadt Rom.

 

Dreh- und Angelpunkt von „Seefeuer“ sind jedoch nicht die Schicksale der Geflüchteten, sondern der zwölfjährige Samuele und seine Familie: Sie scheinen von der Völkerwanderung, die auf und um ihre Heimat herum abläuft, völlig unbeeinflusst zu sein. Der Junge spielt nach der Schule mit seinem Freund am Wasser, baut Steinschleudern und fährt manchmal mit seinem Vater auf See – obwohl ihm dabei immer übel wird. Das spiegelt im Kleinen die Strapazen, denen die Ankömmlinge unterworfen waren.

 

Insel-Arzt entscheidet über Ankommende

 

Genauso verhält es sich auch mit seinem kindlichen Geballer mit imaginären Schnellfeuerwaffen auf Schiffe im Meer; die Flüchtlinge kennen echte Geschosse. Auf der Insel existieren völlig unabhängig voneinander zwei unterschiedliche Welten: einerseits das normale Dorfleben mit lokaler Radiostation; vom Moderator wünscht sich Samueles Oma bestimmte Musiktitel. Andererseits die zahllosen Flüchtenden, die vor der Insel abgefangen und dann zum Festland transportiert werden.

 

Der einzige, der beide Welten kennt, ist Doktor Pietro Bartolo. Der Insel-Arzt entscheidet, wer ins Krankenhaus eingeliefert wird und wer ins Aufnahmelager kommt. Er muss auch Tote untersuchen, die ihre gefährliche Schiffs-Passage nicht überlebt haben. Trotz täglicher Konfrontation mit Grauenvollem hat er sich eine tiefe Menschlichkeit bewahrt.

 

Boots-Besatzung in Goldfolie

 

Regisseur Rosi nimmt sich viel Zeit zum Beobachten. Die Kamera bewegt sich kaum; ihre Einstellungen sind teilweise sehr lang. Dabei kommt eine gewisse missionarische Absicht zum Ausdruck; vermutlich deshalb hat der Regisseur vorwiegend Aufnahmen von grauen Wintertagen ausgewählt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mediterranea" – Drama über Krawalle gegen Immigranten in Süditalien von Jonas Carpignano

 

und hier eine Besprechung des Films “Die Farbe des Ozeans” – intensives Flüchtlings-Drama auf Gran Canaria von Maggie Peren

 

und hier einen Beitrag über den Film „Das andere Rom – Sacro GRA“ – eindrucksvolle Doku über Roms Peripherie von Gianfranco Rosi

 

Sein Film bebildert keine Fakten, sondern lebt von der Stimmung und einigen beeindruckenden Szenen: etwa wenn eine ganze Bootsladung von Menschen – eingehüllt in raschelnde, golden glitzernde Kälteschutz-Folien – in der Dunkelheit auf ihre Registrierung wartet. Ihre fast ausgelassene Stimmung beim Fußballspiel in der Auffangstation fällt umso stärker auf, weil ansonsten recht wenig gelacht wird. Diese Bilder bleiben im Kopf.

 

Bestandsaufnahme vom EU-Südrand

 

Dennoch wirkt der Film leicht gekünstelt; vor allem durch die Passagen mit dem jungen Samuele, da sie überpräsent und mitunter inszeniert erscheinen. Das Leid der Flüchtlinge dagegen ist echt; sie lassen die Kamera oft sehr nah an sich heran. Ihre Gesichter erzählen viel über das, was sie durchgemacht haben – aber sie bleiben stumm. Regisseur Rosi verzichtet auf Off-Kommentare oder andere Informationen, und er bringt die beiden Sphären auf der Insel nie zusammen.

 

Sein Film ist nicht perfekt, und die Preis-Entscheidung der Berlinale-Jury eher als politisches statement denn als ästhetisches Urteil zu verstehen. Allerdings liefert Regisseur Rosi zweifellos eine Bestandsaufnahme vom Südrand der Europäischen Union, der von der Flüchtlingskrise am meisten betroffenen ist. Dabei bemüht er sich nicht um Ausgewogenheit, sondern zeigt einfach beide Seiten nebeneinander – so, wie es eben ist. Alleine das ist sehenswert.