
No more sex, drugs & rock’n’roll: In seinem 20. Spielfilm verzichtet Pedro Almodóvar auf all die Ingredienzien, die ihn zum berühmtesten Regisseur des spanischen Kinos gemacht haben. Keine Transvestiten, junkies oder Vergewaltigungen mehr; ebenso wenig doppelte Identitäten mit mehrfachen Namensänderungen und ungeahnte Verwandschafts-Verhältnisse wie im barocken Lustspiel. Stattdessen Mittelklasse-Menschen, denen die Folgen existentieller Entscheidungen zu schaffen machen.
Info
Julieta
Regie: Pedro Almodóvar,
100 Min., Spanien 2016;
mit: Emma Suárez, Adriana Ugarte, Daniel Grao
Zeitgeist für Familienglück
Der Zeitgeist verlangt nicht mehr nach Enttabuisierung, sondern nach Innerlichkeit und Familienglück. Indem der Regisseur das aufgreift, gewinnt sein jüngstes Werk eine bei ihm neue Qualität: Das Geschehen in „Julieta“ erscheint psychologisch plausibel.
Offizieller Filmtrailer
Lebenszeichen nach jahrelanger Suche
Die Titelheldin (Emma Suárez), eine Frau um die 50, will mit ihrem zweiten Lebensgefährten nach Portugal auswandern, um ihr bisheriges Dasein in Madrid hinter sich zu lassen; die Umzugskartons sind schon gepackt. Da begegnet Julieta auf der Straße zufällig einer Jugendfreundin ihrer Tochter Antía, die vor vielen Jahren verschwunden ist. Diese Beatriz berichtet, kürzlich Antía in Italien getroffen zu haben – sie sei inzwischen Mutter von drei Kindern.
Eine Auskunft, die Julieta fassungslos macht: Sie hatte jahrelang vergeblich nach ihrer Tochter gesucht. Nach diesem überraschenden Lebenszeichen wirft sie alle Pläne über den Haufen. Ohne Erklärung verlässt sie Lorenzo, mietet eine leere Wohnung im selben Haus, in dem sie früher mit Antía lebte, und schreibt zwischen kahlen Wänden einen langen Brief an ihre Tochter – er wird zu einer Art emotionaler Autobiographie.
Tochter verschwindet nach Urlaub
Die entfaltet der Film als Rückblende. Als junge Dozentin für klassische Literatur lernte Julieta (nun gespielt von Adriana Ugarte) im Nachtzug den attraktiven Fischer Xoan (Daniel Grao) kennen; in dieser Nacht wurde Antía gezeugt. Jahre später zieht sie mit ihrem Kind zu Xoan in sein galizisches Dorf. Ihr Glück ist ungetrübt, bis er bei einem Sturm auf See stirbt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "La isla mínima – Mörderland" – packender Thriller um in Südspanien verschwundene Mädchen von Alberto Rodriguez
und hier eine Besprechung des Films „Fliegende Liebende“ – Sommer-Komödie über sexuelle Enttabuisierung von Pedro Almodóvar
und hier einen Beitrag über den Film “We need to talk about Kevin” – hypnotisches Drama über gestörte Mutter-Kind-Beziehung von Lynne Ramsay mit Tilda Swinton, Europäischer Filmpreis 2011.
Heruntergedimmte Stilmittel
Dieser plot beruht auf drei Kurzgeschichten von Alice Munro; die kanadische Literatur-Nobelpreisträgerin von 2013 ist Almodóvars Lieblingsautorin. Wie gewohnt bemüht der Regisseur allerlei unvermutete Wendungen, um Figuren und Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Doch im Unterschied zu früher fallen die Schicksalsschläge nicht mehr aus heiterem Himmel über den Zuschauer her.
Ebenso wenig kreischende Farben, hysterische Weinkrämpfe oder schmachtende Balladen auf der Tonspur: Almodóvar dimmt seine Stilmittel auf ein verträgliches Maß herunter. Anstelle von schrillen oder abseitigen Melodramen entfaltet er ein stilles Seelen-Drama, das umso ergreifender wirkt: mit malerisch komponierten tableaus als passendem Rahmen für das eindrucksvoll nuancierte Auftreten der Schauspieler.
Julietas untröstlicher Kummer und ihre verzweifelten Versuche, Versäumtes auszubügeln, berühren unmittelbar: als Chiffren für Schuldgefühle und die Trauer über den Verlust vermeintlich sicherer Gefühlsbande, der einem Lebenslauf den Boden unter den Füßen wegreißt. Vielleicht fängt Almodóvar jetzt an, seine besten Filme zu drehen.