Pedro Almodóvar

Julieta

Julieta (Emma Suárez) vor dem Plakat für eine Ausstellung des britischen Malers Lucien Freud, das in ihrer Wohnung hängt. Foto: Tobis Film GmbH & Co.KG
(Kinostart: 4.8.) Anstatt schriller Melodramen ein stilles Seelen-Drama: Pedro Almodóvar, gealtertes Enfant terrible unter Spaniens Regisseuren, porträtiert eine Mutter, die nach ihrer verschwundenen Tochter sucht – psychologisch plausibel und ergreifend.

No more sex, drugs & rock’n’roll: In seinem 20. Spielfilm verzichtet Pedro Almodóvar auf all die Ingredienzien, die ihn zum berühmtesten Regisseur des spanischen Kinos gemacht haben. Keine Transvestiten, junkies oder Vergewaltigungen mehr; ebenso wenig doppelte Identitäten mit mehrfachen Namensänderungen und ungeahnte Verwandschafts-Verhältnisse wie im barocken Lustspiel. Stattdessen Mittelklasse-Menschen, denen die Folgen existentieller Entscheidungen zu schaffen machen.

 

Info

 

Julieta

 

Regie: Pedro Almodóvar,

100 Min., Spanien 2016;

mit: Emma Suárez, Adriana Ugarte, Daniel Grao

 

Website zum Film

 

Warum? Nun, Almodóvar ist 66 Jahre alt; die frühere Galionsfigur der Schwulenbewegung umgibt sich vermutlich nicht mehr mit drag queens und ähnlichen Paradiesvögeln. Vielleicht spielt eine Rolle, dass sein letzter Film „Fliegende Liebende“ von 2013 floppte. Diese verquasselte slapstick-Sexkomödie wirkte wie ein müder Abklatsch einstiger Erfolge, etwa „Frauen am Rand des Nervenzusammenbruchs“ (1988) oder „Kika“ (1993).

 

Zeitgeist für Familienglück

 

Der Zeitgeist verlangt nicht mehr nach Enttabuisierung, sondern nach Innerlichkeit und Familienglück. Indem der Regisseur das aufgreift, gewinnt sein jüngstes Werk eine bei ihm neue Qualität: Das Geschehen in „Julieta“ erscheint psychologisch plausibel.

Offizieller Filmtrailer


 

Lebenszeichen nach jahrelanger Suche

 

Die Titelheldin (Emma Suárez), eine Frau um die 50, will mit ihrem zweiten Lebensgefährten nach Portugal auswandern, um ihr bisheriges Dasein in Madrid hinter sich zu lassen; die Umzugskartons sind schon gepackt. Da begegnet Julieta auf der Straße zufällig einer Jugendfreundin ihrer Tochter Antía, die vor vielen Jahren verschwunden ist. Diese Beatriz berichtet, kürzlich Antía in Italien getroffen zu haben – sie sei inzwischen Mutter von drei Kindern.

 

Eine Auskunft, die Julieta fassungslos macht: Sie hatte jahrelang vergeblich nach ihrer Tochter gesucht. Nach diesem überraschenden Lebenszeichen wirft sie alle Pläne über den Haufen. Ohne Erklärung verlässt sie Lorenzo, mietet eine leere Wohnung im selben Haus, in dem sie früher mit Antía lebte, und schreibt zwischen kahlen Wänden einen langen Brief an ihre Tochter – er wird zu einer Art emotionaler Autobiographie.

 

Tochter verschwindet nach Urlaub

 

Die entfaltet der Film als Rückblende. Als junge Dozentin für klassische Literatur lernte Julieta (nun gespielt von Adriana Ugarte) im Nachtzug den attraktiven Fischer Xoan (Daniel Grao) kennen; in dieser Nacht wurde Antía gezeugt. Jahre später zieht sie mit ihrem Kind zu Xoan in sein galizisches Dorf. Ihr Glück ist ungetrübt, bis er bei einem Sturm auf See stirbt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "La isla mínima – Mörderland" – packender Thriller um in Südspanien verschwundene Mädchen von Alberto Rodriguez

 

und hier eine Besprechung des Films „Fliegende Liebende“ – Sommer-Komödie über sexuelle Enttabuisierung von Pedro Almodóvar

 

und hier einen Beitrag über den Film “We need to talk about Kevin” – hypnotisches Drama über gestörte Mutter-Kind-Beziehung von Lynne Ramsay mit Tilda Swinton, Europäischer Filmpreis 2011.

 

Zurück in Madrid quartieren sich die junge Witwe und ihre Tochter in der Nachbarschaft der Familie von Antías bester Freundin Beatriz ein. Julieta hängt sehr an ihrer Tochter, doch diese empfindet ihre Fürsorge zusehends als Last. Nach ihrem 18. Geburtstag verreist Antía erstmals allein in ein camp in den Pyrenäen – und bricht den Kontakt zur Mutter radikal ab. Julietas Nachforschungen bleiben ergebnislos; bis sie eines Tages Beatriz in die Arme läuft.

 

Heruntergedimmte Stilmittel

 

Dieser plot beruht auf drei Kurzgeschichten von Alice Munro; die kanadische Literatur-Nobelpreisträgerin von 2013 ist Almodóvars Lieblingsautorin. Wie gewohnt bemüht der Regisseur allerlei unvermutete Wendungen, um Figuren und Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Doch im Unterschied zu früher fallen die Schicksalsschläge nicht mehr aus heiterem Himmel über den Zuschauer her.

 

Ebenso wenig kreischende Farben, hysterische Weinkrämpfe oder schmachtende Balladen auf der Tonspur: Almodóvar dimmt seine Stilmittel auf ein verträgliches Maß herunter. Anstelle von schrillen oder abseitigen Melodramen entfaltet er ein stilles Seelen-Drama, das umso ergreifender wirkt: mit malerisch komponierten tableaus als passendem Rahmen für das eindrucksvoll nuancierte Auftreten der Schauspieler.

 

Julietas untröstlicher Kummer und ihre verzweifelten Versuche, Versäumtes auszubügeln, berühren unmittelbar: als Chiffren für Schuldgefühle und die Trauer über den Verlust vermeintlich sicherer Gefühlsbande, der einem Lebenslauf den Boden unter den Füßen wegreißt. Vielleicht fängt Almodóvar jetzt an, seine besten Filme zu drehen.