(Kinostart: 27.10.) Freundesmund tut Wahrheit kund: Mit Enthüllungen zerreißt ein Rückkehrer das fragile soziale Gleichgewicht. In seiner beeindruckend schnörkellosen Neufassung des Ibsen-Dramas legt Regisseur Simon Stone ein zeitloses Psychogramm frei.
Ein verlorener Sohn kommt nach langer Zeit in seine frühere Heimat zurück, wodurch tot geschwiegene Konflikte wieder hochkochen – das ist ein alter topos der Weltliteratur. Um dieses Motiv herum hat Henrik Ibsen (1828-1906) sein Stück „Die Wildente“ konstruiert; seit seiner Uraufführung 1884 zählt es zum Standard-Bühnenrepertoire. Vor fünf Jahren hat der australische Theaterregisseur Simon Stone diesen Stoff modernisiert und nun fürs Kino adaptiert.
Die Wildente –
The Daughter
Regie: Simon Stone,
96 Min., Australien 2015;
mit: Geoffrey Rush, Miranda Otto, Odessa Young, Ewen Leslie
Der alte Werks-Besitzer Henry (Geoffrey Rush), seit Jahren verwitwet, will die junge Schönheit Anna heiraten. Aus diesem Anlass kehrt Sohn Christian (Paul Schneider) zurück, der sich nach dem Tod seiner Mutter mit dem Vater überworfen hatte; er muss auf Alkohol verzichten, weil sonst die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin auf der Kippe steht.
Christian besucht seinen Jugendfreund Oliver (Ewen Leslie); ihr Kontakt war abgerissen. Oliver sucht Arbeit, weil er seinen job im Sägewerk verloren hat; ansonsten führt er ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben mit seiner Frau Charlotte (Miranda Otto) und Tochter Hedvig (Odessa Young). Zur Hausgemeinschaft gehört auch Großvater Walter (Sam Neill); er war einst Henrys Geschäftspartner, bevor er wegen Finanzbetrugs im Gefängnis saß. Walter und seine Enkelin kümmern sich voller Hingabe um verletzte Tiere, darunter eine Wildente.
Das fragile soziale Gleichgewicht gerät durch den Eindringling aus dem Lot. Aufgewühlt durch die Erinnerung an seine Mutter und Beziehungsstress, schaut Christian auf der Hochzeit zu tief ins Glas und äußert gegenüber Oliver einen Verdacht, der zum Eklat führt. Was dessen Familienglück zerstört: Tochter Hedvig wird in ihrem Selbstverständnis so erschüttert, dass sie zum Äußersten greift.
Sie steht als Opfer von Rivalitäten der Erwachsenen im Zentrum von Stones Version, die offenbar deshalb im Original den Allerwelts-Titel „The Daughter“ trägt. Doch der deutsche Verleih tut gut daran, den Film hierzulande als „Die Wildente“ ins Kino zu bringen: Die Struktur des Dramas bleibt trotz mancher Änderungen deutlich erkennbar.
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Stattdessen erscheinen alle Protagonisten als Leidtragende widriger Umstände, denen sie nicht gewachsen sind. Gleichviel, ob und wie lauter ihre Absichten sind: Gegen die wie Säure zersetzende Wirkung von Enthüllungen der lange unter den Teppich gekehrten Geheimnisse kommen sie nicht an. Dabei enthält sich der Regisseur jedes Urteils, was dem fatalen Geschehen die Wucht einer antiken Tragödie verleiht.
Dazu tragen auch famose Schauspieler bei. Paul Schneider und Ewen Leslie überzeugen als ehemalige Freunde, die beide glauben, für sich eine prekäre balance gefunden zu haben und an alte Vertrautheit anknüpfen zu können. Dagegen wissen Sam Neill und Geoffrey Rush nur zu gut, was sie einander angetan haben – je mehr Abstand sie halten, desto besser. Und Odessa Young strahlt soviel unschuldige Neugier auf das Leben aus, dass ihr Zerriebenwerden zwischen den Fronten umso schmerzlicher berührt.
All das inszeniert Regisseur geradlinig schnörkellos, was seinen Film noch eindringlicher macht. Er präpariert das Zeitlose aus Ibsens Figuren-Konstellation heraus: Der Wiederkehr des Verdrängten lässt sich nicht entkommen – das wird in abgehängten, langsam ausblutenden Landstrichen noch brutaler spürbar als anderswo.
Von Anne-Katrin Müller, veröffentlicht am 25.10.2016
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