Béla Tarr

Die Werckmeisterschen Harmonien – Werckmeister Harmóniák

Aug' in Aug' mit dem Meeressäuger: János (Lars Rudolph) blickt den ausgestopften Kadaver eines Wals an. Fotoquelle: Filmmuseum Düsseldorf
Weltuntergang mit Walfisch: Sein ausgestopfter Kadaver versetzt ein ungarisches Dorf in Aufruhr. Regisseur Béla Tarr drehte im Jahr 2000 eine vieldeutige Parabel über Anarchie und Autoritarismus in betörenden Schwarzweiß-Bildern – am 8.11. im Filmmuseum Düsseldorf.

In einer ungarischen Kleinstadt setzt János Valuska (Lars Rudolph) mit volltrunkenen Kneipengästen einen kosmischen Tanz in Szene und erklärt damit die Funktionsweise des Sonnensystems. Draußen ist es bitterkalt. Auf seinem Nachhauseweg sieht János die neue Attraktion des Dorfes anrollen: einen monströsen, ausgestopften Wal, der auf dem Dorfplatz ausgestellt wird. Fasziniert von seiner Größe sieht er in ihm die Macht Gottes; die Dorfbewohner jedoch gruppieren sich in großer Schar um das Objekt und wittern darin Unheil. Weil der angekündigte Auftritt eines ‚Prinzen‘ nicht stattfindet, entlädt sich ihre Wut – nicht zielgerichtet, vielmehr willkürlich.

 

Info

 

Die Werckmeisterschen Harmonien - Werckmeister Harmóniák

 

Regie: Béla Tarr,

145 Min., Ungarn/ Deutschland 2000;

mit: Lars Rudolph, Peter Fitz, Hanna Schygulla

 

Weitere Informationen

 

Vorführung im Filmmuseum Düsseldorf am 8. November

 

Im Grunde passiert in „Die Werckmeisterschen Harmonien“ nichts überaus Dramatisches; abgesehen von der Szene, in der ein Mob mit völliger Willkür ein Krankenhaus stürmt. Insofern lässt sich der Film darauf reduzieren, dass er Zeit als solche filmisch inszeniert: Jahre, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden. Der ungarische Regisseur Béla Tarr spricht selbst davon, dass der Film einen historischen Prozess thematisiert, der prägend für Osteuropa in den vergangenen zwei Jahrhunderten gewesen sei.

 

Am Anfang die Planeten bewegen

 

Die Zeit ist auch eine Form, in der sich Veränderung eingräbt und zu Tage bringt. In der Eröffnungsszene des Films, bei der Planetenbewegungen nachgestellt werden, offenbart sich bereits die Frage nach der Notwendigkeit, Gegenstände und Planeten in Einheiten und zeitliche Zusammenhänge zu setzen. Was erzählen diese Ordnungen? Die elfminütige Plansequenz formuliert – im Gegensatz zu den lustigen und außergewöhnlichen Bildern – unzählige Fragen, die der Film gar nicht beantworten kann, geschweige denn will.

Ausschnitt des Films: János (Lars Rudolph) auf dem Dorfplatz


 

Werckmeister wies einen Irrweg

 

Der Titel des Films bezieht sich auf Andreas Werckmeister (1645–1706): Der deutsche Musiker und Musiktheoretiker der Barockzeit ermöglichte mit seinem System der „Werckmeister-Stimmung“ Musikern, in sämtlichen Tonarten zu spielen –  ein so genanntes „individuelles Intervallgefüge“. János‘ Onkel namens György Eszter (Peter Fitz), dessen Frau von Hanna Schygulla gespielt wird, philosophiert in einer Filmszene darüber, dass die gesamte westliche Musik mit den Ideen Werckmeisters auf einen Irrweg geraten sei.

 

Stattdessen, so Herr Eszter, solle man vielmehr zur quintenreinen Stimmung zurückkehren, bei der Intervalle durch reine Quinten definiert werden. Der Melancholiker sieht sich auf der Suche nach reinen Klängen und natürlichen Akkorden, während Werckmeister in seinen Harmonien einen künstlichen Schwindel erzeugt habe.

 

Siebeneinhalbstündiger Satanstango

 

Bereits mit seiner Fernseh-Adaption von Shakespeares Tragödie „Macbeth“, die 1982 mit nur zwei Einstellungen auskam, fand Béla Tarr eine filmische Form und Stringenz, die in der zeitgenössischen Filmlandschaft einen besonderen Stellenwert einnimmt: schier endlose Plansequenzen, lange Einstellungen, wenig Schnitte und Film in Schwarz und Weiß. Sein opus magnum „Satanstango“ von 1994 konzentriert diese Elemente aufs Äußerste: 450 Minuten Laufzeit und eine Bearbeitungsdauer von 7 Jahren.

 

Tarr betonte stets, dass dieser Film genau die gleiche Zeitspanne dauert, die man benötige, um den Roman „Melodie des Widerstands“ von László Krasznahorkai zu lesen, der die Vorlage bildete. In den 145 Minuten von „Die Werckmeisterschen Harmonien“ kommt Béla Tarr mit nur 39 Einstellungen aus. Die für ihn typischen langen Plansequenzen, die die ganze leere Tiefe des Bildes erforschen, erzeugen eine Form des Pessimismus, die sich in der Einsamkeit der Individuen ent- und wieder aufladen: Bilder des Nichts, die jenseits der Leere wieder Platz für Deutungen bieten.

 

Dreh mit sechs Kameramännern

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Turiner Pferd - A Torinói Ló" - brillante Apokalypse-Allegorie von Béla Tarr, prämiert mit Silbernem Bären 2011.

 

und hier einen Bericht über den Film "Es ist schwer, ein Gott zu sein" - monströs hyperralistische ScFi-Mittelalter-Parabel von Alexej German

 

und hier einen Beitrag über den Film "Leviathan" - fesselnde Tragödie über Staatswillkür in Putins Russland von Andrej Swjaginzew

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Hanna Schygulla – Traumprotokolle" - Werkschau selbst gedrehter Kurzfilme der Schauspielerin in der Akademie der Künste, Berlin.

 

Dabei seziert die Kamera Räume über verschiedene Formen der Kamerabewegung. Gefilmt mit steadycam, bewegt sich das Filmbild durch ungeschnittene Bildkompositionen ohne Hast oder Eile, vor allem aber ohne Schnitt. Diese Komplexität der „inneren Montage“ bestimmt die spezifische Stilistik des Films. An seiner Entstehung waren insgesamt sechs Kameramänner beteiligt. Das Kino wird damit zu einem Ort, indem die Situation in ihrer Ganzheit zu sehen ist, ohne subjektiven Filter.

 

Gefüllt mit Stille und Traurigkeit, hat Béla Tarr mit „Die Werckmeisterschen Harmonien“ einen zeitlosen und epischen Film geschaffen, dem man anzuschauen nicht müde wird. Die Bildsprache und formelle Stringenz stehen im Kontrast zur thematischen Auseinandersetzung mit dem Individuum in der postsowjetischen Gesellschaft, überfrachtet mit einem jahrhundertealten Kampf zwischen Barbarei und Zivilisation: die Ordnung und die Moral geraten ins Wanken.

 

Intensität + Respekt

 

In der realistischen und pessimistischen Leere entsteht ein zeitloser Raum, in dem Tarr mit biblischen Referenzen und existenzialistischen Fragen die Wertevorstellungen einer tristen ungarischen Dorfgemeinschaft erforscht, wo sich in der Entwertung aller Werte und Moral doch auch Momente der Zärtlichkeit und Hoffnungen aufspüren lassen.

 

Vor allem schafft der Regisseur durch seine formelle Stringenz eine Intensität und erzeugt damit einen Respekt gegenüber seinen Figuren, dem Sujet und den filmischen Räumen, die er observiert und seziert, ohne sie in irgendeiner Form verändern oder beeinflussen zu wollen. Das macht sein Kino so natürlich, realistisch und vor allem authentisch.

 

Ein Gastbeitrag von Thomas Ochs, Filmmuseum Düsseldorf