Hannover

130% Sprengel. Sammlung Pur

Christian Schad: Lotte (Die Berlinerin), 1927/28, Öl auf Holz (Detail), Fotoquelle: Sprengel Museum Hannover, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Mehr Platz ist immer besser: Im neuen Erweiterungsbau arrangiert das Sprengel Museum überzeugend seine hochkarätigen Bestände der Klassischen Moderne. Für die Kunst nach 1945 fehlt ihm noch eine ähnlich schlüssige Präsentation.

Zurück zur Mehrzweckhalle: Die Phase, in der exzentrisch gestaltete Museums-Neubauten quasi selbst ihr spektakulärstes Exponat wurden, ist offenbar vorbei. Ob der im April eingeweihte Erweiterungsbau des Kunstmuseums Basel, ganz grau in grau gestaltet, oder der Entwurf von Herzog & de Meuron für das geplante Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin, dessen Backstein-Block wie eine Scheune oder ein Hangar aussieht – der Trend geht zur schlichten Kiste. Allein edle Materialien erinnern dezent an die hochkulturelle Bestimmung des Hauses.

 

Info

 

130% Sprengel. Sammlung Pur

 

05.06.2016 - 29.01.2017

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

dienstags bis 20 Uhr

im Sprengel Museum, Kurt-Schwitters-Platz, Hannover

 

Weitere Informationen

 

So auch in Hannover; dort verlängert ein schwarzer Flachbau den Riegel des Sprengel-Museums am Maschsee. Während der Errichtung nannten Spötter ihn „Brikett“ oder „Sarkophag“. Seit der Fertigstellung ist klar, dass seine Raumflucht innen wesentlich freundlicher wirken als von außen: Natürliches Oberlicht, zehn teils in kräftigen Farben gehaltene Säle und zwei Ruhezonen mit Panorama-Ausblick sorgen für eine gelöste, fast heitere Atmosphäre.

 

Neustart mit sechs Sonderschauen

 

Zur Eröffnung des Erweiterungsbaus Anfang Juni hat das Museum nicht nur seine Kollektion neu gegliedert. Es zeigt auch ein halbes Dutzend Sonderschauen: vom eigenen „Kosmos“ für den Hausheiligen und gebürtigen Hannoveraner Kurt Schwitters mit seinen Dada-Merzbildern über eine Parade der drall-bunten „Nanas“ von Niki de Saint Phalle bis zur stark erweiterten Foto-Abteilung. Kernstück ist aber die veränderte Präsentation der ständigen Sammlung: Kunst nach 1945 im Altbau, Klassische Moderne im Neubau.

Impressionen des Erweiterungsbaus vor der Einweihung; © walkoArt


 

Sprengel wurde Sammler nach „Entartete Kunst“

 

Der Rundgang beginnt mit einer hommage an das Sammler-Ehepaar Margit und Bernhard Sprengel. Es schenkte seine umfangreiche Kunst-Kollektion 1969 der Stadt Hannover, schoss einen Teil der Baukosten zu und ermöglichte damit die Einrichtung des 1979 eröffneten Museums; fünf Jahre später erhielt es seinen Namen. Ironie der Geschichte: Der Schokoladen-Fabrikant und seine Frau hatten ausgerechnet durch die NS-Femeschau „Entartete Kunst“ 1937 Geschmack an moderner Kunst gefunden; nach deren Besuch erwarben sie die erste Arbeit.

 

Das Museum lässt nun die klassische Moderne mit dem Kubismus von Pablo Picasso, Juan Gris und Henri Laurens beginnen. Nebenan hängt ein Prunkstück des Hauses: „Die Straße dringt in das Haus“ (1911) von Umberto Boccioni ist eines der wenigen Hauptwerke des italienischen Futurismus in deutschem Besitz. Die Aussicht einer Dame von ihrem Balkon auf eine Großbaustelle zwischen Häuserzeilen demonstriert formvollendet das futuristische Gestaltungsprinzip dynamischer Kraftlinien.

 

Brücke auf Gelb, Blauer Reiter auf Rot

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Sculpture on the Move 1946–2016" zur Eröffnung des Erweiterungsbaus des Kunstmuseums Basel

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Menschliches – Allzumenschliches" mit Werken der Neuen Sachlichkeit im Lenbachhaus, München

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Dix/Beckmann: Mythos Welt" mit Werken von Otto Dix + Max Beckmann in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Pablo Picasso: Frauen – Stiere – Alte Meister" – hervorragende Grafik-Ausstellung im Kupferstichkabinett, Berlin

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Traum-Bilder – Die Wormland-Schenkung" – mit Werken des Surrealismus von Max Ernst, René Magritte, Salvador Dalí und anderen in der Pinakothek der Moderne, München.

 

Ein Intermezzo mit Lyonel Feininger, Marc Chagall und Wilhelm Lehmbruck leitet über zum Expressionismus, einem Schwerpunkt der Sammlung: Dessen Spielarten breiten Porträts von Edvard Munch, Paula Modersohn-Becker, Emil Nolde oder Oskar Kokoschka aus. Die nächsten beiden Säle würdigen die beiden wichtigsten deutschen Künstlergruppen dieses Stils: Werke der „Brücke“-Maler Max Pechstein, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rotluff und Otto Mueller – meist in Blau- und Grüntönen gehalten – harmonieren überraschend gut mit gelb getünchten Wänden.

 

Horizont der 1920/30er Jahre abgesteckt

 

Dagegen werden im Raum nebenan die Bilder von Mitgliedern des „Blauen Reiters“ wie Franz Marc, Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin oder August Macke von der purpurroten Wandfarbe fast verschluckt – hoffentlich bleicht sie bald etwas aus. Gut ausbalanciert ist hingegen der Kontrast von Bildern der Neuen Sachlichkeit, etwa von Otto Dix, Christian Schad oder der Hannoveranerin Grethe Jürgens, mit Bauhaus-Konstruktivisten wie Oskar Schlemmer einerseits und Surrealisten wie Max Ernst, Paul Delvaux oder Yves Tanguy andererseits: Die Gegenüberstellung steckt quasi den künstlerischen Horizont der 1920/30er Jahre ab.

 

Etwas aus der Chronologie fällt ein Raum, der ausschließlich Picasso, Paul Klee und Max Beckmann gewidmet ist: Hier werden Publikumslieblinge versammelt. Stark ist jedoch wiederum der Schlussakkord mit Künstlern wie Beckmann, Max Ernst und Schwitters, die nach 1933 ins Exil getrieben wurden, in Konfrontation mit mehr oder weniger NS-regimetreuen Kollegen wie Franz Radziwill. Er ist mit dem ambivalenten Gemälde „Deutschland 1944“ vertreten: Hinter einer mondänen Raucherin mit Augenklappe zerfällt eine hermetisch-surreale Welt.

 

Weiße Nachkriegs-Leere

 

Eine abgeschlossene Welt ist auch die klassische Moderne im Erweiterungsbau: Nur eine Tür führt zum Durchgangs-Saal mit mobiles von Alexander Calder und mächtiger Rampe. Sie gewährt Einlass zur Abteilung mit Nachkriegskunst – und die glänzt durch strahlend weiße Leere. Auf sieben Säle sind nur wenige Exponate verteilt, die zudem kaum miteinander korrespondieren. Da fehlt den Kuratoren offenbar noch eine zündende Idee, wie sich die hauseigenen Bestände plausibel kombinieren lassen.