Am Anfang des Films von Omer Fast fährt ein Bundeswehr-Konvoi durch die afghanische Wüste. Ein Soldat springt aus dem Wagen und hetzt auf die nahen Hügel zu. Seine Kameraden rufen hinter ihm her, doch er rennt weiter, panisch. In der nächsten Einstellung: Soldaten am Boden, verletzt, verstümmelt, tot oder dem Tod nahe.
Info
Continuity
Regie: Omer Fast,
85 Min., Deutschland 2016;
mit: André M. Hennicke, Iris Böhm, Constantin von Jascheroff
Halluzinationen beim Abendessen
Offenbar holen sie ihren Sohn von einer Bahn-Station ab. Der junge Mann trägt Uniform; er kehrt aus Afghanistan zurück. Doch etwas stimmt nicht mit ihm – er ist nervös und abweisend, braucht Medikamente und bekommt beim Abendessen Halluzinationen. Auch das Verhalten der Mutter irritiert: Ist das noch Fürsorge oder schon Begehren? Ist sie wirklich seine Mutter?
Trailer der Kurzfassung von "Continuity" (2012)
Teil eines ödipalen Rollenspiels
Dann holen die Eltern ein zweites Mal ihren Sohn vom Bus ab. Seine Uniform trägt dasselbe Namensschild, doch es ist ein anderer junger Mann. Er ist gut gelaunt, macht derbe Späße. Diesmal ist es der Vater, der mit ihm einen eindeutig sexuellen Wortwechsel hat, und spätestens jetzt wirkt der Junge eher wie ein Stricher, der Teil eines ödipalen Rollenspiels ist.
Video-Künstler Omer Fast hat in seinem viel beachteten Debüt-Spielfilm „Remainder“ gezeigt, wie weit er Rollenspiele treiben kann. Die Eltern holen einen dritten Jungen vom Bahnsteig ab, was den Ritualcharakter des Geschehens verdeutlicht; währenddessen wiederholen sich Dialogzeilen oder tauchen in neuen Variationen wieder auf.
Langfassung eines Kurzfilms von 2012
Hat dieses seltsame Paar, das da einen Jungen nach dem anderen vermisst, wiederbekommt, umsorgt, bezankt und begehrt, seinen Sohn vielleicht längst verloren? Gab es je einen Sohn? Zugleich beginnt eine andere Geschichte, die wirklich von einem Stricher handelt und auf labyrinthische Weise mit der ersten verbunden ist. Sie verwickelt sich in einer Zeitschlaufe: Erinnert sich der junge Mann (Constantin von Jascheroff), der seinen dealer nicht bezahlen kann, an seine Zukunft – in Afghanistan?
„Continuity“ ist die Langfassung eines gleichnamigen, 40-minütigen Kurzfilms aus dem Jahr 2012. Die Kernhandlung wurde mit einer zweiten Erzählung verwoben, die das Mysteriöse, Unfassbare des Films noch einmal um eine zusätzliche Ebene erweitert. Das Ergebnis ist ein filmisches Rätsel vom Format eines Werks von David Lynch oder des Autorenfilm-Klassikers „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) von Alain Resnais.
Vorort-Hölle von Pforzheim
Omer Fast entwirft in seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm mit wenigen Strichen eine eigene Welt, die mit allen Verbindlichkeiten des tradierten Dramas bricht; in ihr gelten allein seine Zeichen und Spielregeln. Die Leute sind nicht, was sie scheinen, in dieser Vorort-Hölle von Pforzheim (!); aus ihr scheint es keinen Ausgang zu geben, keine andere Verbindung zur Außenwelt als eine Bahn-Station am Waldrand.
Der Bäcker handelt mit Drogen, der Soldat ist kein Soldat, und die Eltern sind möglicherweise gar nicht Herr und Frau Fiedler. Die Menschen in dem Film haben keine Vorgeschichte oder Berufe; wir wissen über sie nur das, was sie vor unseren Augen tun. Sie sind wohlsituiert, aber gleichzeitig völlig kaputt; durch die Familie geht ein Riss, der nicht erklärt wird.
Statt Antworten neue Wendungen
Omer Fast kam von der Videokunst zum Kinofilm; er wurde in Jerusalem geboren, studierte in den USA und lebt seit einigen Jahren in Berlin. Sein Film hat trotz des Themas nichts Orts-Spezifisches; er könnte auch in einer US-Kleinstadt oder in Israel spielen. Dort haben die Menschen in den letzten 70 Jahren mehr Erfahrungen mit gefallenen Söhnen und Töchtern gesammelt als die im geteilten Deutschland.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Remainder" - faszinierender Identitäts-Thriller von Omar Fast
und hier einen Bericht über die Ausstellung „Creating Realities – Begegnungen zwischen Kunst und Kino“ mit der Kurzfassung von „Continuity“ von Omer Fast in der Pinakothek der Moderne, München
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Letztes Jahr in Marienbad. Ein Film als Kunstwerk" über den legendären Rätsel-Film von Alain Resnais in der Kunsthalle Bremen
und hier einen Beitrag über den Film "Zwischen Welten" – realistischer Kriegsfilm über Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan von Feo Aladag mit Ronald Zehrfeld.
Jonglage mit großen + kleinen Themen
Am Ende steht statt einer Auflösung das, was der Regisseur selbst in einem Interview als „produktive Konfusion“ bezeichnet hat: ein Gewirr von offenen Enden, die zu verknüpfen den Zuschauern selbst überlassen wird. Und es gibt allerhand zu tun.
„Continuity“ jongliert mit großen und kleinen Themen und Motiven: Krieg, Tod, Trauma, Vergewaltigung und einem kuriosen ödipalen Dreieck, aber auch Kuchen, Haschisch und am Ende sogar einem Kamel. Es ist ein Film, der nicht argumentiert und doch viel erzählt. Zwar sind seine Geschichten nicht „wahr“, aber hinter ihnen steht eine größere Wahrheit über eine Gesellschaft, die Krieg führt, Auto fährt, Drogen nimmt, Essen kocht und Sex hat.
Schaudern lassender „Tatort“-look
Der Film sagt auf seine Weise: Schaut, das sind wir – nicht mehr und nicht weniger! Dass er dabei nicht in der düsteren Pracht eines Films von David Lynch erstrahlt, sondern über weite Strecken so grau und deprimierend aussieht wie ein TV-„Tatort“, und dabei von einem subtil verstörenden soundtrack untermalt wird, trägt dazu bei, den Betrachter erschauern zu lassen – und dieser Schauer hat nichts Wohliges.