Omer Fast

Continuity

Der zweite Heimkehrer Daniel (Lukas Steltner) erzählt Kriegs-Geschichten. Foto: Copyright Filmgalerie 451
(Kinostart: 17.11.) Bring the Boy Back Home: Die Heimkehr eines Sohnes als Soldat aus Afghanistan inszeniert Video-Künstler Omer Fast als rätselhaftes Rollenspiel, das produktive Verwirrung auslösen soll. Folgerichtig ist hier nichts – zumindest nicht auf den ersten Blick.

Am Anfang des Films von Omer Fast fährt ein Bundeswehr-Konvoi durch die afghanische Wüste. Ein Soldat springt aus dem Wagen und hetzt auf die nahen Hügel zu. Seine Kameraden rufen hinter ihm her, doch er rennt weiter, panisch. In der nächsten Einstellung: Soldaten am Boden, verletzt, verstümmelt, tot oder dem Tod nahe.

 

Info

 

Continuity

 

Regie: Omer Fast,

85 Min., Deutschland 2016;

mit: André M. Hennicke, Iris Böhm, Constantin von Jascheroff

 

Weitere Informationen

 

Beide Szenen dauern nur wenige Sekunden; sie wirken wie Fragmente eines Kriegsfilms, aber es gibt keinen Kontext. Stattdessen sehen wir als nächstes in langen, stillen Sequenzen dem Mann Thorsten Fiedler (André M. Hennicke) und seiner Frau Katja (Iris Böhm) zu. Sie liegt depressiv im Bett, seine Gesten sind hilflos. Später, im hauseigenen Schwimmbad, lächeln sie sich zaghaft an; im Auto steigt ihre schon zuvor spürbare Vorfreude, aber auch die Anspannung.

 

Halluzinationen beim Abendessen

 

Offenbar holen sie ihren Sohn von einer Bahn-Station ab. Der junge Mann trägt Uniform; er kehrt aus Afghanistan zurück. Doch etwas stimmt nicht mit ihm – er ist nervös und abweisend, braucht Medikamente und bekommt beim Abendessen Halluzinationen. Auch das Verhalten der Mutter irritiert: Ist das noch Fürsorge oder schon Begehren? Ist sie wirklich seine Mutter?

Trailer der Kurzfassung von "Continuity" (2012)


 

Teil eines ödipalen Rollenspiels

 

Dann holen die Eltern ein zweites Mal ihren Sohn vom Bus ab. Seine Uniform trägt dasselbe Namensschild, doch es ist ein anderer junger Mann. Er ist gut gelaunt, macht derbe Späße. Diesmal ist es der Vater, der mit ihm einen eindeutig sexuellen Wortwechsel hat, und spätestens jetzt wirkt der Junge eher wie ein Stricher, der Teil eines ödipalen Rollenspiels ist.

 

Video-Künstler Omer Fast hat in seinem viel beachteten Debüt-Spielfilm „Remainder“ gezeigt, wie weit er Rollenspiele treiben kann. Die Eltern holen einen dritten Jungen vom Bahnsteig ab, was den Ritualcharakter des Geschehens verdeutlicht; währenddessen wiederholen sich Dialogzeilen oder tauchen in neuen Variationen wieder auf.

 

Langfassung eines Kurzfilms von 2012

 

Hat dieses seltsame Paar, das da einen Jungen nach dem anderen vermisst, wiederbekommt, umsorgt, bezankt und begehrt, seinen Sohn vielleicht längst verloren? Gab es je einen Sohn? Zugleich beginnt eine andere Geschichte, die wirklich von einem Stricher handelt und auf labyrinthische Weise mit der ersten verbunden ist. Sie verwickelt sich in einer Zeitschlaufe: Erinnert sich der junge Mann (Constantin von Jascheroff), der seinen dealer nicht bezahlen kann, an seine Zukunft – in Afghanistan?

 

„Continuity“ ist die Langfassung eines gleichnamigen, 40-minütigen Kurzfilms aus dem Jahr 2012. Die Kernhandlung wurde mit einer zweiten Erzählung verwoben, die das Mysteriöse, Unfassbare des Films noch einmal um eine zusätzliche Ebene erweitert. Das Ergebnis ist ein filmisches Rätsel vom Format eines Werks von David Lynch oder des Autorenfilm-Klassikers „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) von Alain Resnais.

 

Vorort-Hölle von Pforzheim

 

Omer Fast entwirft in seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm mit wenigen Strichen eine eigene Welt, die mit allen Verbindlichkeiten  des tradierten Dramas bricht; in ihr gelten allein seine Zeichen und Spielregeln. Die Leute sind nicht, was sie scheinen, in dieser Vorort-Hölle von Pforzheim (!); aus ihr scheint es keinen Ausgang zu geben, keine andere Verbindung zur Außenwelt als eine Bahn-Station am Waldrand.

 

Der Bäcker handelt mit Drogen, der Soldat ist kein Soldat, und die Eltern sind möglicherweise gar nicht Herr und Frau Fiedler. Die Menschen in dem Film haben keine Vorgeschichte oder Berufe; wir wissen über sie nur das, was sie vor unseren Augen tun. Sie sind wohlsituiert, aber gleichzeitig völlig kaputt; durch die Familie geht ein Riss, der nicht erklärt wird.

 

Statt Antworten neue Wendungen

 

Omer Fast kam von der Videokunst zum Kinofilm; er wurde in Jerusalem geboren, studierte in den USA und lebt seit einigen Jahren in Berlin. Sein Film hat trotz des Themas nichts Orts-Spezifisches; er könnte auch in einer US-Kleinstadt oder in Israel spielen. Dort haben die Menschen in den letzten 70 Jahren mehr Erfahrungen mit gefallenen Söhnen und Töchtern gesammelt als die im geteilten Deutschland.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Remainder" - faszinierender Identitäts-Thriller von Omar Fast

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung  „Creating Realities – Begegnungen zwischen Kunst und Kino“ mit der Kurzfassung von „Continuity“ von Omer Fast in der Pinakothek der Moderne, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Letztes Jahr in Marienbad. Ein Film als Kunstwerk" über den legendären Rätsel-Film von Alain Resnais in der Kunsthalle Bremen

 

und hier einen Beitrag über den Film "Zwischen Welten" – realistischer Kriegsfilm über Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan von Feo Aladag mit Ronald Zehrfeld.

 

Gerade deswegen erscheint er in einer wiedervereinigten Bundesrepublik mit ihrer plötzlich an allen möglichen Fronten mitkämpfenden Armee umso bedeutsamer. Was aber soll das bedeuten? Der Film, der mit einem gemächlichen Tempo auf körperliche und psychische Verletzungen hinsteuert, die die Akteure in ihren seltsamen, traumartigen Schockzustand versetzt hat, liefert statt Antworten noch einige überraschende Wendungen.

 

Jonglage mit großen + kleinen Themen

 

Am Ende steht statt einer Auflösung das, was der Regisseur selbst in einem Interview als „produktive Konfusion“ bezeichnet hat: ein Gewirr von offenen Enden, die zu verknüpfen den Zuschauern selbst überlassen wird. Und es gibt allerhand zu tun.

 

„Continuity“ jongliert mit großen und kleinen Themen und Motiven: Krieg, Tod, Trauma, Vergewaltigung und einem kuriosen ödipalen Dreieck, aber auch Kuchen, Haschisch und am Ende sogar einem Kamel. Es ist ein Film, der nicht argumentiert und doch viel erzählt. Zwar sind seine Geschichten nicht „wahr“, aber hinter ihnen steht eine größere Wahrheit über eine Gesellschaft, die Krieg führt, Auto fährt, Drogen nimmt, Essen kocht und Sex hat.

 

Schaudern lassender „Tatort“-look

 

Der Film sagt auf seine Weise: Schaut, das sind wir – nicht mehr und nicht weniger! Dass er dabei nicht in der düsteren Pracht eines Films von David Lynch erstrahlt, sondern über weite Strecken so grau und deprimierend aussieht wie ein TV-„Tatort“, und dabei von einem subtil verstörenden soundtrack untermalt wird, trägt dazu bei, den Betrachter erschauern zu lassen – und dieser Schauer hat nichts Wohliges.