
Rund 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung erlebte der Roman „Jeder stirbt für sich allein“ des deutschen Schriftstellers Hans Fallada 2009 eine überraschende Wiederentdeckung. Erstmals ungekürzt und auf Englisch veröffentlicht, wurde er zu einem internationalen bestseller. Dass nun eine Verfilmung des Schweizer Regisseurs Vincent Pérez mit internationaler Star-Besetzung in die Kino kommt, war also zu erwarten.
Info
Jeder stirbt für sich allein
Regie: Vincent Pérez,
103 Min., Großbritannen/Deutschland/Frankreich 2016;
mit: Emma Thompson, Brendan Gleeson, Daniel Brühl
Vom Systemfreund zum Regimefeind
Im Roman wie im Film werden aus den Hampels das Ehepaar Otto (Brendan Gleeson) und Anna Quangel (Emma Thompson). Sie sind kleine Leute: sie ist Hausfrau, er Werksmeister in einer Schreinerei. Nicht sonderlich gesellig; ein miteinander grau und sich fremd gewordenes Paar. Wie die meisten Zeitgenossen ließen sich die Quangels von der NS-Propaganda mitreißen. Doch dann fällt ihr einziger Sohn in Frankreich. Während auf den Straßen der Sieg über den verhassten „Erbfeind“ gefeiert wird, kommen beiden immer mehr Zweifel an der Richtigkeit ihrer Überzeugungen.
Das Paar will etwas gegen seinen Schmerz und gegen die eigene Ohnmacht unternehmen. Otto kommt auf die Idee mit den Postkarten. Er will Sand ins Getriebe streuen und hofft, die Menschen so zur Einsicht zu bringen. Doch aufgrund der NS-Propaganda mit ihren Appellen, Andersdenkende zu denunzieren, werden fast alle Karten bei der Polizei abgegeben.
Offizieller Filmtrailer
Ambivalente Persönlichkeit
Sie landen bei Kommissar Escherich (Daniel Brühl), den der Fall weniger politisch als kriminalistisch interessiert; insgeheim verachtet er das regime. Als Opportunist beugt er sich jedoch dem Druck seiner Vorgesetzten, den geschickt agierenden Kartenverteiler aufzuspüren. Dieser ambivalente Charakter, den Daniel Brühl etwas zu sympathisch spielt, ist sicher die interessanteste Figur des ensembles.
Weniger spannend ist die überlange Exposition des Films, in der diverse Nebenfiguren eingeführt werden. Im mehr als 600 Seiten langen Roman haben diese Figuren ihren Platz und ihre Funktion. Seine Faszination bezieht das Buch aus dem genau beobachteten Sittenbild sowie der volkstümlichen Sprache. Die Verfilmung von Vincent Pérez kann das nicht in gleichem Maße leisten; sie bleibt daher nur ein Abziehbild des Originals.
Keine Spannung, kaum Mitgefühl
Insgesamt ist der Film zu lehrbuchhaft und überraschungsarm konstruiert; dagegen kommen selbst gute Schauspieler wie Thompson und Gleeson nur schwer an. Über weite Strecken fesselt das Geschehen nicht sonderlich. Spannung und Empathie mit den Figuren kommen erst im letzten Drittel auf.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" – Biopic über den Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume mit Burkhart Klaußner
und hier eine Besprechung des Films "Elser" – Biopic über den wenig bekannten Hitler-Attentäter von Oliver Hirschbiegel mit Burghart Klaußner
und hier einen Beitrag über den Film "Hannah Arendt" – faszinierendes Porträt der Philosophin während des Eichmann-Prozesses von Margarethe von Trotta mit Barbara Sukowa.
Der Elefant + die Maus
Der Erzählfluss ist strikt linear, und fast alle Figuren sind eindeutig in ihrem Charakter und in ihren Handlungen positioniert. Nur wenige Filme über diese Epoche wagen einen anderen Ansatz, wie etwa das herausragende Werk „Das Leben ist schön“ von 1997: Darin verwandelte der italienische Komiker und Regisseur Roberto Benigni humoristisch, aber nicht verharmlosend den KZ-Alltag in ein absurdes Spiel.
An dieses niveau reicht Pérez‘ Film trotz seiner handwerklich soliden Machart nicht heran, mit der er die Paranoia des NS-Systems deutlich macht. In Falladas Worten: „Diese beiden Eheleute Quangel nehmen eines Tages im Jahr 1940 den Kampf auf gegen die ungeheure Maschinerie des Nazistaates, und das Groteske geschieht: der Elefant fühlt sich von der Maus bedroht.“