František Vláčil

Marketa Lazarová

Tauben tragende Nonnen besteigen einen Hügel. Foto: © 1967 Studio Filmowe Barrandov / Státní fond České Republiky. Fotoquelle: Bildstörung Verleih
(Kinostart: 1.12.) Zeitreise ins 12. Jahrhundert: Regisseur František Vláčil wollte 1967 dem Publikum vermitteln, wie sich das Mittelalter anfühlte. Seine Raubritter-Fabel gilt als "bester tschechischer Film aller Zeiten" – und kommt 49 Jahre später in deutsche Kinos.

Eine doppelte Zeitreise: Mit „Marketa Lazarová“ wollte der tschechische Regisseur František Vláčil das Publikum zurück ins 12. Jahrhundert katapultieren – mit Stilmitteln, die 1967 sehr avantgardistisch waren. Sie wirken immer noch exzentrisch und beeindruckend, aber eben auch wie der letzte Schrei von vor einem halben Jahrhundert. Dieser Film kommt nun 49 Jahre nach seiner Entstehung in deutsche Kinos: Das macht ihn zu einer verblüffenden, teils verstörenden und auf jeden Fall einzigartigen Seh-Erfahrung.

 

Info

 

Marketa Lazarová

 

Regie: František Vláčil,

165 Min., Tschechoslowakei 1967;

mit: Magda Vášáryová, Josef Kemr, Frantisek Velecký

 

Website zum Film

 

Der 1999 gestorbene Vláčil war etwas älter als die Protagonisten der „Neuen Welle“ im tschechoslowakischen Kino wie Miloš Forman, Jiři Menzel oder Vera Chytilova, deren Werke im „Prager Frühling“ Furore machten. Vláčil hatte nie eine Filmhochschule besucht, sondern sein Handwerk in den Armee-Filmstudios gelernt. Während seine Kollegen mit frechen Experimenten die Zensur provozierten, drehte er in den 1960er Jahren eine Trilogie zur Religionsgeschichte: Alle drei Filme behandeln ex- oder implizit Konflikte zwischen Heiden- und Christentum – und die Deformationen, die sie Menschen zufügen. Das war Vláčils Kommentar zur KP-Diktatur.

 

Monatelang im Wald hausen

 

„Marketa Lazarová“ basiert auf einem Historien-Roman von Vladislav Vančura. Der bedeutende tschechische Autor der Zwischenkriegszeit schilderte darin Mittelalterliches mit modernen Erzähltechniken – dieses Prinzip übernahm Regisseur Vláčil. Er wollte keine Ausstattungsorgie drehen, die einem historischen Maskenball gleicht, sondern das Publikum mit der Erlebnis- und Gefühlswelt von Menschen vor 800 Jahren vertraut machen. Dafür trieb Vláčil enormen Aufwand: Er zwang seine Schauspieler, monatelang nur mit Fellen bekleidet in böhmischen Wäldern zu hausen, um das Dasein ihrer Charaktere nachzuempfinden.

Offizieller Filmtrailer


 

Visionen wirken in Realität hinein

 

Dieses hardcore method acting ergänzt ein polyperspektivischer Ansatz. „Marketa Lazarová“ hat zwar Hauptfiguren und eine chronologische Handlung, aber keinen linearen Verlauf. Der Film springt zwischen Schauplätzen und Episoden hin und her – tatsächliches Geschehen wird von (Alp-)Träumen und Visionen der Akteure unterbrochen. Deren Wirklichkeitsgehalt bleibt unklar, mehr noch: Ihre Halluzinationen scheinen öfter in die Realität hineinzuwirken. Übernatürliches ist überall: Das entspricht zwar dem mittelalterlichen Weltbild, erleichtert aber nicht gerade das Verständnis. Zusammengehalten wird das Ganze nur von dunkel raunenden Schrifttafeln.

 

So dauert es eine Weile, bis man die Konstellation überblickt. Der tyrannische Freibauer Kozlik lebt mit seinem Clan aus Söhnen, Weibern und Gefolgsleuten von Raubzügen und Überfällen. Als er einen Grafen-Spross entführen lässt, entsendet der König einen Hauptmann mit Truppen, um ihn zu bestrafen. Kozlik schickt seinen Stammhalter Miklas zum Nachbar Lazar, einem weiteren Tunichtgut, um gemeinsam in den Kampf zu ziehen. Da Lazar sich weigert, wird er von Miklas misshandelt und außerdem seiner Tochter Marketa beraubt. Dem königlichen Strafkommando sind jedoch die zerlumpten Gesetzlosen nicht gewachsen.

 

Zeichen + Wunder als Protagonisten

 

In dieser Raubritter-Fehde tummeln sich noch allerlei Nebenfiguren. Wobei es Regisseur Vláčil weniger auf den plot ankommt, als vielmehr auf Atmosphärisches: Imponiergehabe und Rede-Rituale, mit der die Patriarchen einander einschüchtern und beeinflussen wollen. Zeichen und Wunder, die so häufig auftreten, dass sie nahezu die Rollen eigenständiger Protagonisten übernehmen. Am wichtigsten ist die Natur: Ihren Gewalten sind alle jederzeit unterworfen. Wenn zugefrorene Sümpfe auftauen, können versprengte Hungerleider zumindest Fische fangen – mit bloßen Händen.

 

Diese bettelarme, vor Dreck strotzende und ständig göttliche Gnade erflehende Gesellschaft fängt die Kamera in eindrucksvollen Schwarzweiß-Aufnahmen ein. Manche sind von epischer Wucht: Winzige Gestalten, die sich in Schneewüsten verlieren, erinnern an „Iwan der Schreckliche“ (1945/6) von Sergej Eisenstein oder „Andrej Rubljow“ (1965/6) von Andrej Tarkowski.

 

Titelheldin erleidet Stockholm-Syndrom

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Es ist schwer, ein Gott zu sein" – monumentale Mittelalter-Allegorie in Schwarzweiß aus Russland von Alexej German

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Pasolini Roma" – exzellente Retrospektive über Leben + Werk von Pier Paolo Pasolini im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über den Film "Miloš Forman – What Doesn’t Kill You" – gelungenes Doku-Porträt des tschechisch-amerikanischen Regisseurs von Miloslav Šmídmajer

 

und hier einen Beitrag über den Film "Alois Nebel" – beeindruckender tschechischer Historien-Animationsfilm in Schwarzweiß von Tomáš Luňák + Jaroslav Rudiš, prämiert mit dem Europäischen Filmpreis 2012.

 

Großaufnahmen von Gesichtern wie Landschaften könnten von Ingmar Bergman stammen. Alogische Szenen mit assoziativen Schnitten und Überblendungen wirken wie aus Pier Paolo Pasolinis mittlerer Schaffensphase: Seine Verfilmung des Matthäus-Evangeliums brachte 1964 archaisches Elend ebenso ungeschönt auf die Leinwand.

 

Während Regisseur Vláčil seine Bildsprache bis ins letzte Detail durchkomponiert, kümmert ihn Psychologie kaum. Was die Akteure motiviert; warum sie sich verbünden und bald wieder verraten, erschließt sich heutigen Betrachtern selten. Ebenso wenig: Warum Titelheldin Marketa, nachdem sie zwei Stunden lang nur stumm dulden durfte, plötzlich in wortreicher Liebe zu ihrem kidnapper Miklas entbrennt – ein krasser Fall von Stockholm-Syndrom.

 

Wurf in fundamentale Fremdheit

 

Doch darum geht es hier nicht. Der Zuschauer muss nicht verstehen; er soll instinktiv mitfühlen und -leiden. Dieser Suche nach absoluter Unmittelbarkeit verschrieben sich Mitte der 1960er Jahre viele Autorenfilmer. Im Ostblock waren dafür die Voraussetzungen günstig: Es gab keinen kommerziellen Druck. Wenn Drehbücher einmal genehmigt und Budgets bewilligt waren, konnten Regisseure zuweilen jahrelang an der Umsetzung feilen: Als Pioniere, die unbekanntes Kino-Territorium erforschten.

 

Dabei entstand manches Meisterwerk, das heute halb vergessen ist. „Marketa Lazarová“ wurde in einer Kritiker-Umfrage 1998 zum „besten tschechischen Film aller Zeiten“ gekürt. Das ähnelt dem Status von „Citizen Kane“ (1941) von Orson Welles; er führt die meisten rankings zur Kinogeschichte an, obwohl er kaum noch gezeigt wird. Gleichviel: František Vláčils Versuch, eine längst im Nebel der Vergangenheit versunkene Epoche möglichst authentisch auf die Leinwand zu bringen, ist ein großer Wurf. Wobei die fundamentale Fremdheit bleibt.