Heimat ist ein Hafen, aber auch Ursprung allen Übels: Der einzige Ort im Leben, den sich niemand aussuchen kann; an dem Menschen zum ersten Mal lieben und hassen, Gewalt erfahren und ausüben und an dem sie erstmals realisieren, dass die Familie nicht die Menschheit und das Zuhause nicht die Welt ist.
Info
Einfach das Ende der Welt
Regie: Xavier Dolan,
95 Min., Kanada/Frankreich 2016;
mit: Marion Cotillard, Vincent Cassel, Léa Seydoux
Floskeln als Übersprungs-Handlungen
Doch das ist schwieriger als gedacht. Bereits in den ersten Augenblicken, während er sein weitläufiges Elternhaus betritt, entlockt er den Familien-Mitgliedern, die seinen Weggang nie verarbeitet haben, eine großes Spektrum kontrastierender Gefühle. Nervös, aber voller Vorfreude, oder wütend, aber womöglich zur Vergebung bereit, stehen sie gelähmt im Flur und überspielen ihre Unsicherheit mit Floskeln – Übersprungs-Handlungen emotionaler Unbeholfenheit.
Offizieller Filmtrailer
Gesichtsausdrücke erzählen Geschichten
Der neue Film des hyperproduktiven Frankokanadiers Xavier Dolan – sein sechster in sieben Jahren – nach einem Theaterstück von Jean-Luc Lagarce ist ein Kammerspiel der bohrenden Blicke und nuancierten Gesten: Gesichtsausdrücke erzählen ganze Geschichten von Enttäuschung und Wut. Die Kamera schaut zu, wenn das lachende Antlitz von Suzanne (Léa Seydoux), die ihren Bruder Louis nie richtig kennen gelernt hat und ihn dennoch liebt wie niemanden sonst, in nur wenigen Sekunden zu einem weinenden wird. Wenn der Blick aus den Augen der sympathisch verschrobenen Mutter (Nathalie Baye) leer erscheint oder sich in Louis‘ Lächeln die Furcht einschleicht, den wahren Grund seines Besuchs zu nennen.
Auch das Mikrofon hört nicht weg, wenn verbale Verletzungen entgleisen. Vor allem Antoine (Vincent Cassel), Louis‘ jähzorniger älterer Bruder, versteckt seine Verzweiflung hinter Aggressionen. Beim anfangs harmonischen lunch im blühenden Garten beleidigt er alle unentwegt, bis die Lage eskaliert: Suzanne rennt schreiend in ihr Zimmer, um zu kiffen, Antoine flüchtet auf den Dachboden, und die Mutter verkriecht sich ins Gartenhaus, um heimlich zu rauchen. Dorthin folgt ihr Louis zur wohl schönsten Szene des Films. Eines dürfe er nie vergessen, sagt die Mutter, die auch ohne sein Bekenntnis zu ahnen scheint, dass ihr Sohn nie wiederkommen wird – und hebt drohend den Zeigefinger: Sie werde ihn immer lieben.
Schlachtfeld der verwundeten Seelen
Liebe als Drohung: ein perfektes Sinnbild für diese Familie, die auch ein Paradebeispiel für symbolische Gewalt innerhalb dieses Milieus ist – als Schlachtfeld der verwundeten Seelen. Dolan seziert Gefühle und ihre wohl am wenigsten geeignete Botschafterin, die sprachliche Kommunikation, in all ihrer Ambivalenz so akribisch, dass es unweigerlich an die Filme von Ingmar Bergman erinnert; etwa „Szenen einer Ehe“ (1973), ein Meisterstück über pathologische Beziehungen.
Wie der schwedische Regisseur kehrt Dolan, der schon als 19-Jähriger mit dem Film „I killed my Mother“ debütierte, das gängige Schema antiker Tragödien um. Das Leiden der Figuren erzeugt beim Publikum keine behagliche Distanz, sondern wird empatisch nachempfunden – und dadurch auch ohne physische Gewalt radikal unangenehm.
Zwischenräume der Zeit-Darstellung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mommy" – Mutter-Kind-Psycho-Drama von Xavier Dolan
und hier eine Besprechung des Films "Sag nicht wer du bist!" – schwuler Psycho-Thriller von Xavier Dolan
und hier einen Beitrag über den Film "Laurence Anyways" – romantisches Drama über Transsexualität von Xavier Dolan
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Ingmar Bergman – Von Lüge und Wahrheit" über das Gesamtwerk des schwedischen Regisseurs im Museum für Film und Fernsehen, Berlin.
Was Dolan dabei an experimentellen Erzählformen preisgibt, etwa die poetische Bildsprache von „Laurence Anyways“ (2012), ist in Zwischenräume abgewandert; wie bei der Darstellung von Zeit. Etwa die Zeitlupe, die den Blickwechsel zwischen Louis und seiner Schwägerin Christine (Marion Cotillard), die als einzige sein Schicksal zu ahnen scheint, surreal ausdehnt. Oder der Zeitraffer, wenn Louis im Nostalgie-Rausch seine alten Briefe durchblättert.
Familie unter dem Mikroskop
Dass die Sturm und Drang-Phase des Regisseurs einer narrativen Unaufgeregtheit gewichen ist, schafft Raum für das Eigentliche: einen mikroskopischen Blick auf die Keimzelle der Gesellschaft. Sie war einst vor allem ökonomische Solidargemeinschaft und droht heute ein soziales Auslaufmodell zu werden. Am Ende ist es weniger Louis‘ bevorstehender Tod, der alle schmerzt, sondern ihre Einsicht, dass es die von unbewussten Verletzungen und Unausgesprochenem hervorgerufene Einsamkeit ist, die ihnen am meisten zusetzt. Was ist schon der Tod gegen die Einsamkeit?