
Als „größten Künstler auf dem Gebiet der Bildpoesie des Films“ beschrieb der Kritiker Béla Balázs den niederländischen Dokumentarfilmer Joris Ivens, der 1898 in Nijmegen geboren und 1989 in Paris gestorben ist. Obgleich er in einer bürgerlichen und wohlhabenden Familie aufgewachsen war, entwickelte sich der Regisseur im Laufe seines Lebens zu einem überzeugten Sozialisten.
Diese politische Überzeugung hatte einen immensen Einfluss auf seine filmische Arbeit. Doch zunächst stand ein filmtechnisches und fotochemisches Interesse im Vordergrund seiner Ausbildung. Auf seine Tätigkeit im Fotobedarfs-Geschäft seines Vaters und dem Studium der Fotochemie lässt sich seine exzellente Fertigkeit zurückführen, mit dem Material und der Filmtechnik so gekonnt umzugehen, wie es in seinen Werken deutlich wird. Im Laufe seines Schaffens prägte er die Entwicklung und Etablierung des Dokumentarfilms als Instrument politischer Bildung entscheidend mit.
Einfluss des Surrealismus
Zu Beginn von Ivens‘ Tätigkeit als Regisseur lässt sich zum einen der starke Bezug zur Filmavantgarde und insbesondere der Formensprache von Walter Ruttmann erkennen, zum anderen aber auch eine Beziehung zum Surrealismus, der noch in Werken wie „À Valparaìso“ (1964) zum Tragen kommt. In „Regen“ (1929) wiederholen sich die Motive von Straßen in Amsterdam, die unter der Poesie des Regens verschwinden.
Offizieller Filmtrailer
Weltgewerkschafts-Kongress als Start
Mit einer Handkamera sammelt Ivens über vier Monate Bilder vom Regen in der niederländischen Stadt. Regentropfen sind überall und charakterisieren den städtischen Raum und ihre Bewohner, die sich darin bewegen. Diese besondere Formensprache, bei der alltägliche Elemente und Prozesse der Natur zu einer Filmpoesie abstrahiert werden, findet sich in all seinen Arbeiten wieder.
Für den DEFA-Film „Lied der Ströme“ war der Weltgewerkschafts-Kongress im Oktober 1953 in Wien die Initialzündung; er verband Arbeiterbewegungen auf der ganzen Welt. Dort versammelten sich Arbeitervertreter aller Länder, in denen der Film spielt. Am 24. Oktober 1953 schrieb Ivens in sein Tagebuch: „Künstler sein, emotioneller Mensch, ist hier, in diesem Moment, vor solcher Aufgabe, zu wenig. Hier muss man Politiker und Künstler sein.
Der Regisseur muss mit dem Kongress, mit dem historischen Ereignis, mitwachsen: sonst bleibt er menschlich zurück. Um als Künstler und als artisan (als Handwerker) Meister dieser Realität zu sein, muss er Politik in allen Fingerspitzen haben, und jede Delegation, jede Kommission ist sein Berater. Er muss alle Reden, alle Protokolle studieren…“ Nach Wien sollte Ivens schließlich ein Jahr später am 11. Oktober 1954 zur Uraufführung zurückkehren.
An den sechs größten Flüssen der Welt, dem Ganges, dem Mississippi, dem Nil, dem Amazonas, der Wolga, dem Jangtsekiang filmten mehr als 30 Kameramänner in 32 Ländern. Sie arbeiteten anonym und teilweise auch heimlich an den Ufern der Flüsse. Jeder dieser Ströme ist Mittelpunkt eines Erdteils.
Texte von Brecht, Musik von Schostakowitsch
Ivens schildert und beschreibt in seinem Werk die Arbeiterbewegungen vor Ort, aber eben auch insbesondere die Schere von Armut und Reichtum; dazu befeuert er die Macht der Gewerkschafts-Organisationen. Der Kongress in Wien ist als Hoffnungsschimmer zur Bekämpfung der Probleme auf der Welt ein zentrales Thema des Films: als symbolische und globale Vernetzung der Arbeiter.
Der Regisseur zeigt sich als leidenschaftlicher Anhänger dieser Arbeiterbewegungen und als bekennender Sozialist, indem er für den Kampf der Arbeiter für Frieden, Brot und ihre Aktionseinheit Partei ergreift. Nicht von ungefähr hat Bertolt Brecht die Liedtexte geschrieben; mit der Musik von Dimitrij Schostakowitsch wurde eine imposante Untermalung eingesetzt. So kann „Lied der Ströme“ als symbolischer Film für den Kampf der Arbeiterklasse und als sozialistisches Werk verstanden werden.
Subjektivität als Stilmittel
Dabei wird sehr deutlich, was Dokumentarfilm ist und was er leisten kann. Durch inszenierte Wirklichkeit transportieren Dokumentarfilme in erste Linie einen Ausschnitt jener Realität, die der Filmschaffende ins Auge fasst, ausschneidet und montiert. Eine ganz bestimmte Welt wird dokumentiert, die in Ivens‘ Filmen sehr häufig von den Bildern und einem politischen Kommentar bestimmt wird; beides untermalt nicht nur die Komposition, sondern bestimmt sie mit.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ich, Daniel Blake" – sozialrealistisches Drama über Arbeiter-Protest gegen kafkaeske Bürokratie von Ken Loach, mit Goldener Palme 2016 prämiert
und hier einen Besprechung des Films "Jimmy’s Hall" – Klassenkampf-Drama im Irland der 1930er Jahre von Ken Loach
und hier einen Beitrag über den Film "Hotel Lux" – brillante Stalinismus-Satire von Leander Haußmann mit Michael “Bully” Herbig.
Stets Partei ergreifen
Seine politische Haltung und Meinung sind Teil seiner Filme; sie sind Handschrift und Überzeugung zugleich. Dabei zeigt er nicht mit erhobenem Zeigefinger auf etwas, um die Arbeiterbewegungen in der Welt zu belehren, sondern sieht sich in gewisser Weise selbst als ein Teil von ihnen. Dem Zuschauer lässt er durch bewusste Auslassungen die notwendige Möglichkeit für Assoziationen und eigene Meinungsbildung.
Ivens setzt Dinge in Bezug, die in der Wirklichkeit nicht zusammengehören. Er schafft neue Welten mit seinen Kompositionen, die aus der realen Welt hervorgehen. Als politischer Dokumentarfilmer verfolgt er das Ziel, den Film für politische Meinungsbildung zu nutzen, um andernorts ignorierte oder verzerrt dargestellte Themen in einer neuen Perspektive zu betrachten. Seine Filme ergreifen stets Partei und versuchen zu beeinflussen, aber nicht zu manipulieren: Sie sind diskursiv. Die Dokumentarfilme von Joris Ivens setzen bewusst den subjektiven Blick auf das Dokumentierte ein.
Ein Gastbeitrag von Thomas Ochs, Filmmuseum Düsseldorf