Alles ist so fad – so könnte eine Maxime der literarischen décadence lauten. Zumindest bei ihrer berühmtesten Romanfigur in „À rebours“ („Gegen den Strich“, 1884) von Joris-Karl Huysmans: Sein Held Des Esseintes ist vom alltäglichen Einerlei so angeödet, dass er sich auf einen Luxus-Landsitz zurückzieht, um extravaganten Sinnesreizen zu frönen; etwa dem Anblick vergoldeter Schildkröten.
Info
Lockruf der Décadence - Deutsche Malerei und Bohème 1840-1920
04.09.2016 - 08.01.2017
täglich außer montags
10 bis 17 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
im Museum Georg Schäfer, Brückenstraße 20, Schweinfurt
Katalog 29,90 €
Herumlungernde Gruppen ab 1860
Nun ist das Aufspüren von bislang unbekannten Stilrichtungen ein beliebter Zeitvertreib unter Kunsthistorikern: Wem gelingt, ein neues label durchzusetzen, der trägt sich unauslöschlich in die Annalen der Zunft ein. Allerdings spricht auf den ersten Blick manches für die Ausstellungs-These: Ab etwa 1860 häufen sich großformatige Bilder, auf denen Menschengruppen zwang- bis hemmungslos herumlungern und sich zweifelhaften Tätigkeiten hingeben. Wird dadurch Dekadenz nicht quasi zum eigenen genre der Malerei?
Interview mit Kurator Wolf Eiermann + Impressionen der Ausstellung
Verführerisches warnt vor üblen Folgen
Diese Frage stößt auf ein Übersetzungsproblem: décadence ist nicht gleich Dekadenz – obwohl es so im Wörterbuch steht. Dekadenz meint Phasen von Niedergang und Verfall ganzer Gesellschaften; angefangen mit dem Untergang des Römischen Reiches. Abbildungen dekadenter Szenen erfolgen oft in hochmoralischer Absicht; um den Betrachter abzuschrecken. Wie bei Laster-Darstellungen vom Mittelalter bis zum Barock: Frevelhaftes Tun, gern detailreich ausgemalt, soll vor dem bösen Ende warnen – Nervenkitzel inklusive, wenn Verführerisches auf einem Bild mit üblen Folgen kontrastiert wird.
In dieser altehrwürdigen Tradition steht etwa das Monumentalgemälde „Les Romains de la Décadence“ von Thomas Couture, das 1847 großes Aufsehen erregte: freizügige Spätrömer feiern eine ausschweifende Orgie – sie sind dabei gleichsam umzingelt von Marmorstatuen der Vorfahren, die an ihre große, weil sittsame Vergangenheit erinnern. Die Schau zeigt eine kleine Ölskizze und als Kopie das meterhohe Original; es wird vom Pariser Musée d’Orsay nicht verliehen.
Décadents suchten Blumen des Bösen
Ähnlich, nur etwas braver, hat Wilhelm von Kaulbach seinen „Turmbau zu Babel“ 1844/7 angelegt: Die hybris seiner Erbauer wird von Gott samt Engeln bestraft – entsetzte Menschen fliehen panisch in alle Richtungen. Dass auf beiden Bildern manch leicht bekleidete Gestalt bei zweideutigen Aktionen zu sehen ist, mindert nicht ihre pädagogisch wertvolle Botschaft: Ermahnung zu konventioneller Tugend.
Décadence als künstlerische Geisteshaltung ist das genaue Gegenteil davon. Sie entstand nach den gescheiterten Revolutionen von 1830 und 1848 in Opposition zu den herrschenden Verhältnissen: als ästhetische Rebellion gegen das juste milieu der Besitz- und Spießbürger. Was deren Doppelmoral ablehnte, zog Freigeister an: Dort suchten sie jenseits von Religion und Nützlichkeitsdenken nach Sinn und Schönheit – am Rand der Gesellschaft, in Erotik, Experimenten und Exzessen aller Art. Nichts drückt das bündiger aus als der berühmte Gedichte-Titel von Charles Baudelaire: „Les Fleurs du Mal“ („Die Blumen des Bösen“, 1857).
Pest in Florenz als Lüstlings-Traum
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Dekadenz – Positionen des österreichischen Symbolismus" mit Werken von Gustav Klimt + Max Klinger im Unteren Belvedere, Wien
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Schönheit und Geheimnis: Der deutsche Symbolismus" mit Werken von Arnold Böcklin, Leo Putz + Franz von Stuck in der Kunsthalle Bielefeld
und hier einen Beitrag über die Ausstellung „Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900“ – grandioser Epochen-Überblick mit Werken von Toulouse-Lautrec + Picasso in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Reiselust und Sinnesfreude" – mit Werken von Lovis Corinth + Max Slevogt in Apolda
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Am I Dandy? Anleitung zum extravaganten Leben" – kleine Kulturgeschichte des Dandytums im Schwulen Museum, Berlin.
Zu Unrecht: Wie vielschichtig seine überladenen Riesenformate sind, zeigt das Herzstück der Schau. Das wandfüllende Triptychon von 1868 firmiert als „Pest in Florenz (Decamerone)“ nach Boccaccios Klassiker. Makart soll es aber auch „Nach uns die Sintflut“ oder gar „Traum eines Lüstlings“ genannt haben: Das passt zum chaotischen Gewirr von kostbaren accessoires und Personen in lasziven Posen. Lichtkegel beleuchten wie spotlights besonders pikante Konstellationen – als sei es ein frivoler R’n’B video clip, den der Maler in Simultan-Einstellungen auf die Leinwand gebannt hat.
Ultramodern süffige Schauwerte
Dieser Überflutung mit aufreizend widersprüchlichen Eindrücken, die sich weder vollständig erfassen noch begreifen lassen, wirkt ultramodern – gleichsam als visueller tsunami mit Mitteln von vor 150 Jahren. Ebenso einzigartig sind etwa Federzeichnungen von Heinrich Kley, die er um 1900 schuf: Er lässt eine Muse seinen Schädel aufklappen, damit ihm Wimmelbilder-Figuren entspringen können, oder winzige Skifahrer einen Frauenleib hinuntergleiten.
Derart verblüffende sujets von eher selten gezeigten Künstlern sind locker zu launig kommentierten Motivgruppen angeordnet. Darüber vernachlässigt die Ausstellung, dass sie eigentlich eine neue These belegen will – anstelle einer plausiblen Begründung werden unterschiedliche Aspekte von décadence und Dekadenz als bunter Bilderreigen munter durcheinander gewürfelt. Macht nichts, da die Schau mit solchen Schauwerten prunken kann: Die nonchalance, mit der sie sich über akademische Standards hinwegsetzt, hätte den décadents gewiss gefallen.