
Als der Modedesigner Tom Ford 2009 seinen ersten Spielfilm „A Single Man“ drehte, war die Skepsis groß – und umso größer waren Überraschung und Begeisterung über das Resultat. Das nicht nur ästhetisch hochkomplexe Porträt einen selbstmordgefährdeten schwulen Uni-Professors in den 1960er Jahren brachte dem Regie-Debütanten sogar eine Nominierung für die Golden Globes ein. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Nachfolge-Film „Nocturnal Animals“; mit ihm hat sich Ford sieben Jahre Zeit gelassen.
Info
Nocturnal Animals
Regie: Tom Ford,
116 Min., USA 2016;
mit: Amy Adams, Jake Gyllenhaal, Michael Shannon
Schlaflos im Luxus-Haus
Als sich die aufgekratzte Menge verlaufen hat, steht sie verloren vor riesigen Videowänden voller dicker Frauen. Ihr Leben erscheint ihr einsam und unendlich traurig: trotz luxuriösem Haus, blendend aussehendem Mann und erfolgreicher Galerie wirkt alles auf sie seelenlos. Deshalb kann sie auch nicht schlafen.
Offizieller Filmtrailer
Familien-Massaker in der Wüste
Dann schickt ihr Ex-Mann Edward Sheffield (Jake Gyllenhaal), den sie vor 19 Jahren für den Schönling Hutton Morrow (Armie Hammer) verließ, ihr per Post seinen ersten Roman zu. Er ist wie der Film „Nocturnal Animals“ betitelt und Susan gewidmet. Neugierig beginnt sie zu lesen und ist sofort gefesselt. Das Buch erzählt brutal und schonungslos die Geschichte des Familienvaters Tony Hastings (ebenfalls gespielt von Jake Gyllenhaal).
Er wird mit seiner Familie bei einem Ausflug in Texas nachts durch bewaffnete Schläger von der Straße abgedrängt; danach muss er tatenlos zusehen, wie seine Frau und ihre halbwüchsige Tochter entführt werden. Am Folgetag findet man findet beide vergewaltigt und tot in der Wüste. Tony schwört Rache; er wird sie Jahre später zu einem hohen Preis bekommen.
Identifikation mit den Verbrechern
Die Erzählung greift Susan durch ihre Rohheit unmittelbar an. Während sie liest, erinnert sie sich an ihre Zeit mit Edward – es war die einzig glückliche Phase in ihrem Leben, wie sie allmählich erkennt. Als fragiles Wesen ist sie prototypisch wohlstandsverwahrlost: materiell immer nur das Beste gewöhnt, bekam sie nicht viel Liebe. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Edward gab ihr, was sie zuvor nicht kannte: echte Zuneigung, Wärme, Verständnis und Unterstützung.
Hintergrund
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Melancholie + Gewalt der Rache
Wie beim Vorgänger „A Single Man“ hat Tom Ford erneut das Drehbuch selbst verfasst – und „Nocturnal Animals“ abermals melancholisch grundiert. Darin fügt er der schwebenden Traurigkeit eine neue Komponente hinzu: reale physische Gewalt, die aus mangelnder Empathie oder Rachegelüsten entsteht. Das zeigt sich auch an der Bildgestaltung: Die extrem durchgestylte Ästhetik des Kunstbetriebs wird durchbrochen von der hässlichen Ödnis der texanischen Provinz. In dieser tristen Gegend kennt sich Ford aus; er wuchs dort auf.
Sein zweiter Film dreht sich um Entscheidungen, mit denen man anderen Gewalt antut – und die Frage, wie sehr persönliche Beziehungen, Liebe und Vertrauen oder ihr Fehlen Menschen prägen. Im Kontrast zur ernüchternden Botschaft ist die Inszenierung erwartungsgemäß formvollendet: Die Kamera schwelgt in hypermodernen, hochpolierten interieurs, um kurz darauf nach perfekter Überblendung die staubige Wüste im US-Süden einzufangen.
Alles ist sichtlich durchkomponiert; selbst die abgeblätterte Farbe des Verstecks der Roman-Übeltäter hat genau im richtigen Grauton zu sein. Neben der Wucht solcher Bilder wirkt aber vor allem die vielschichtige Drastik der story lange nach. Das ist verdammt gut gemacht, klug und irgendwie gruselig zugleich.