Kirill Serebrennikov

Der die Zeichen liest – Uchenik

Wenjamin (Petr Skvortsov) schmückt die Schulaula. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 19.1.) Mit der Bibel gegen die Welt: Ein russischer Teenager wird zum radikalen Christen und mischt seine Schule auf. Statt auf Gegenwehr trifft er auf lauen Opportunismus – gelungene Groteske nach einem Theaterstück von Marius von Mayenburg.

Religiöse Fanatiker können nach landläufiger Annahme heutzutage nur Islamisten sein: Junge wütende Bartträger ohne Aussicht auf schnellen Ausgleich ihres Hormonhaushalts. Was aber, wenn ein junger Wüterich zum radikalen Christen wird? Diese Frage treibt der russische Regisseur Kirill Serebrennikov in seinem Film konsequent auf die Spitze; er lief beim Festival in Cannes 2016 in der Nebenreihe „Un Certain Regard“.

 

Info

 

Der die Zeichen liest -
Uchenik

 

Regie: Kirill Serebrennikov,

108 Min., Russland 2016;

mit: Petr Skvortsov, Victoria Isakova, Svetlana Bragarnik

 

Weitere Informationen

 

Wenjamin, genannt Wenja (Petr Skvortsov), ist 16 Jahre alt und geht auf eine staatliche russische Schule. Als Einzelgänger scheint er nicht sonderlich an Freundschaften interessiert. Eines Tages weigert er sich, am Schwimmunterricht teilzunehmen; die knappen Bikinis der Mädchen verletzen angeblich seine religiösen Gefühle.

 

Bibelzitate für alle Lebenslagen

 

Ohne erkennbaren Grund bekennt sich der Jüngling zu einer ultrastrengen Glaubensauslegung: Er liest nicht nur demonstrativ überall und jederzeit in der heiligen Schrift, sondern hat auch zu jedem Anlass ein flammendes Bibelzitat parat. Damit provoziert er seine hoffnungslos überforderte Mutter (Julia Aug), stört vehement den Unterricht und verunsichert die säkulare, aber auch opportunistische Lehrerschaft.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

An Kants Wirkungsstätte

 

Der Film basiert auf dem Theaterstück „Märtyrer“ von Marius von Mayenburg, das 2012 unter der Regie des Autors an der Berliner Schaubühne uraufgeführt wurde. Serebrennikow hat es auf die russischen Verhältnisse angepasst; das gibt ihm mehr psychologische Tiefe als in der Vorlage, die im deutschen Wohlstands-Milieu spielt.

 

Die sowjetische Vergangenheit mit ihrer kommunistischen Dogmatik und deren fortdauernder Nachwirkung wird unwillkürlich mitgedacht. Der Schauplatz ist wohl bewusst gewählt: Kaliningrad – das frühere Königsberg und Wirkungsstätte des großen Philosophen und Aufklärers Immanuel Kant (1724-1804).

 

Kondome in der Schule?

 

Wenjas Konversion geschieht plötzlich und radikal: Niemand hat Schuld, aber auch niemand eine Erklärung. Binnen kürzester Zeit wird der teenager zum kompromisslosen Demagogen mit soziopathischen Zügen; damit bringt er das Machtgefüge an der Schule durcheinander. Er sieht sich als Kreuzzügler und argumentiert mit der Offenbarung gegen Homosexualität, die Evolutionslehre oder das moderne Scheidungsrecht. Alle von ihm zitierten Bibelstellen sind blutrünstig oder gewalttätig.

 

Das bleibt nicht ohne Wirkung: Bald fragt sich das Lehrer-Kollegium, ob es nicht ohnehin für junge Mädchen besser sei, im Schwimmbecken hochgeschlossene Badeanzüge zu tragen. Oder ob es notwendig ist, im Sexualkundeunterricht über Homosexualität zu sprechen oder den Gebrauch von Kondomen zu üben? Würde theoretische Aufklärung nicht ausreichen, so wie früher?

 

Zweikampf mit Biologielehrerin

 

Dagegen wehrt sich die junge Biologielehrerin Elena Lvovna (Victoria Isakova): Sie will sich nicht von einem einzelnen Schüler dessen vormoderne Dogmen aufzwingen lassen, der dabei noch mit lauten Predigten ihren Unterricht stört. Elena hält Wenjas Anwandlungen für einen Hilferuf – und versucht, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

 

Doch humanistische Bibel-Passagen, die sie ihm entgegenhält, werden von ihm schlicht negiert. Zudem bekommt Elena von ihren älteren Kolleginnen nur Gegenwind; sie stört deren jahrzehntelange Routine. Die Lehrerin steigert sich immer verbissener in den Zweikampf mit ihrem Schüler hinein – bis ein echtes Opfer zu beklagen ist.

 

Für Jesus sterben

 

Wenja probiert seine neue Macht an seinem schwächsten Mitschüler aus, dem gehbehinderten Grischa. Ein echter Gotteskrieger braucht schließlich Jünger auf seinem Kreuzzug gegen den Rest der Welt: Der russische Originaltitel „Uchenik“ bedeutet sowohl „Schüler“ als auch „Jünger“. Dem Religionslehrer (Nikolai Roschin), der ihn für ein orthodoxes Priesterseminar anwerben möchte, wirft er die Friedfertigkeit des Christentums vor. Wenja möchte nicht für Jesus leben, sondern sterben.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Tribe" – schonungsloses Drama über gehörlose Schüler in der Ukraine von Myroslav Slaboshpytskiy

 

und hier eine Besprechung des Films "Leviathan" – fesselnde Tragödie über Rechtlosigkeit in Russland unter Putin von Andrej Swjaginzew

 

und hier einen Bericht über den Dokumentarfilm "Die Moskauer Prozesse" – Re-Inszenierung der religiös begründeten Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau

 

und hier einen Beitrag über den Film "Jenseits der Hügel – După dealuri" – vielschichtiges Exorzismus-Drama im orthodoxen Kloster von Cristian Mungiu, dreifacher Preisträger in Cannes 2012.

 

Wie in der Drama-Vorlage sind manche Charaktere holzschnittartig angelegt. Das bis in jede Nebenrolle großartig besetzte Ensemble gibt den Figuren aber soviel Profil, wie sie benötigen, um glaubhaft zu wirken. Auch die Dialoge wirken oft theatralisch; etwa beim fesselnden infight des neo-reaktionären Schülers mit seiner liberalen Biologie-Lehrerin.

 

Crash-Kurs in Bibelkunde

 

Dafür findet Regisseur Serebrennikov kongeniale Bilder: etwa, wenn Wenja aus Protest gegen die Evolutionslehre im Klassenzimmer ein Affenkostüm trägt oder in der Schulaula ein selbst zusammengenageltes Kreuz aufhängt, mit dem er zuvor durch die leere Stadt gewandert ist. Darüber hinaus bietet er weniger glaubensfesten Zuschauern wahren Bildungs-Mehrwert: Alle Bibelzitate werden mit Belegstellen im Bild eingeblendet.

 

Der Film tritt als Groteske mit burlesken Zügen auf. Doch das Lachen bleibt meistens im Hals stecken: Angesichts der Parabel auf eine Gesellschaft, die eher bereit ist, sich an Obskurantismus als an nachprüfbaren Fakten zu orientieren – und nach einem Führer lechzt, der sagt, wo es langgeht. Die manipulative Kraft einfacher Lösungen wird so anschaulich durchexerziert, dass es einem graust. Besonders fatal wirkt die verzagte Haltung der älteren Lehrer, die Autoritarismus noch aus ihrer Jugend in der Sowjetunion kennen.

 

In der angekratzten Demokratie

 

Wenjas Kampf gegen alles, was ihm nicht behagt – seine Mutter, die aufreizend unerreichbaren Mitschülerinnen und die Biolehrerin – ist eigentlich eine normale Halbstarken-Rebellion; doch ihr religiöser Anstrich lässt sie ideologisch ausufern. Das mag im Mikrokosmos einer Schule überspitzt und verdichtet erscheinen – wird aber allgemein relevant im Kontext einer angekratzten Demokratie, in der fake news wahlentscheidend zu werden drohen.