Karlsruhe

Kunst in Europa 1945–1968 – Der Kontinent, den die EU nicht kennt

Fernand Léger: Constructeurs (Detail), 1951, Öl auf Leinwand, 160 x 200 cm, The Pushkin State Museum of Fine Arts, Moscow, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Fotoquelle: ZKM Karlsruhe
Inventur des überbordenden Füllhorns: Eine Mammut-Ausstellung im ZKM will sämtliche künstlerischen Strömungen der Nachkriegszeit bilanzieren. Damit übernimmt sie sich – beeindruckt aber als Fundgrube von selten gezeigten Werken aus Osteuropa.

Der Titel „Kunst in Europa 1945–1968“ ist eindeutig: Es geht um einen Epochen-Überblick über die Nachkriegszeit. Aber was bedeutet „Der Kontinent, den die EU nicht kennt“? Etwa, dass Brüssel Europas kulturelle Vielfalt übersieht? Trotz unzähliger Förderprogramme für alle Sparten von Literatur bis Film; trotz der alljährlichen Kür von Kulturhauptstädten, die ihre Vorzüge in verschwenderischer Fülle präsentieren dürfen?

 

Info

 

Kunst in Europa 1945–1968 -
Der Kontinent, den die EU nicht kennt

 

22.10.2016 - 29.01.2017

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr, am Wochenende 11 bis 18 Uhr

im ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Lorenzstraße 19, Karlsruhe

 

Englischer Katalog 39 €,
deut. Ergänzungsband 14 €

 

Weitere Informationen

 

Dazu erklärt ZKM-Chef Peter Weibel: „Es scheint, als ob der ‚kulturelle Kontinent Europa‘ von der Institution EU nicht zur Kenntnis genommen wird. Auch das Schicksal der finanziellen Förderung dieser Ausstellung zeugt von dieser Erfahrung.“ Sprich: Brüssel wird seiner kulturellen Verantwortung nur gerecht, wenn es jeden Wunsch nach Subventionen honoriert. Ansonsten kontern die Antragsteller mit EU bashing.

 

500 Werke von 200 Künstlern

 

Dabei ist dieses Vorhaben wahrhaft paneuropäisch angelegt. Die Mammut-Ausstellung mit rund 500 Werken von 200 Künstlern haben Einrichtungen aus drei Ländern gemeinsam auf die Beine gestellt: das Palais des Beaux-Arts (BOZAR) in Brüssel, das ZKM und das Puschkin-Museum mit dem russischen Ausstellungs-Zentrum ROSIZO. Im Sommer 2016 war die Schau in Belgien zu sehen, ab März gastiert sie in Moskau: eine den gesamten Kontinent überspannende Kooperation, wie sie immer noch selten sind – oder schon wieder.

Feature über die Ausstellung mit ZKM-Direktor Peter Weibel; © ZKM


 

Weltstars neben Einzelgängern

 

Diese Reichweite von Brest bis Brest-Litowsk macht den Reiz des Unternehmens aus. Es behandelt Künstler aus allen Teilen Europas gleichrangig; Weltstars aus den Metropolen Paris oder London werden neben Einzelgängern aus der Peripherie mit überschaubarem Publikum gezeigt. Natürlich mit regionalen und thematischen Schwerpunkten: Europas kultureller Flickenteppich ist so kleinteilig und dicht, dass jede Bestandsaufnahme auswählen muss.

 

Doch diese Schau vergleicht Arbeiten aus West und Ost so selbstverständlich miteinander, wie es hierzulande zuletzt vor mehr als einer Dekade geschah: quasi als Rehabilitation der osteuropäischen Nachkriegs-Avantgarden, nachdem sie in den 1990er Jahren erstmals gewürdigt und danach wieder vergessen worden sind.

 

Propaganda der Polarität

 

Auf die Zerstörungsorgie des Zweiten Weltkriegs reagierten überall Künstler ähnlich: mit Darstellungen der gequälten Kreatur. Wenige taten das so naturalistisch wie Andrej Wróblewski aus Polen, der 1949 eine ganze Serie von Erschießungs-Opfern malte – und prompt Ärger mit der kommunistischen Zensur bekam. Die meisten Bilder und Skulpturen – etwa vom Briten Henry Moore, dem Deutschen Gerhard Marcks oder Bernard Buffet aus Frankreich – gaben geschundene Leiber stilisiert und anonymisiert als memento mori wider.

 

Die Gemeinschaft des Gedenkens löste sich aber im Zuge der Blockbildung rasch auf. Ideologische Gegensätze prägte auch die Kunst: Abstraktion galt als Ausdruck von Subjektivität und Individualismus im freien Westen, während im Ostblock der Sozialistische Realismus mit Figuren im Kollektiv herrschte. Die behauptete Polarität war selbst politische Propaganda und bestimmte nie die Praxis: Auf beiden Seiten den Eisernen Vorhang nutzten Künstler beide Formensprachen, und die Übergänge waren fließend.

 

Kurzfilm-Hymne auf Kunststoff

 

Dafür findet die Schau anschauliche Paarungen. Fernand Légers farbenfrohes Bauarbeiter-Gruppenporträt „Constructeurs“ von 1951 scheint direkt von Agitprop-Vorbildern des sowjetischen Malers Alexander Denejka inspiriert. Und Picassos Friedenstaube diente DDR-Malern wie Harald Metzkes und Werner Tübke als Symbol für die Hoffnung auf Reformen – oder der Enttäuschung über ihr Scheitern. Dass sowohl Léger als auch Picasso der KP nahe standen, ändert nichts an dieser Migration der Formen über die Blockgrenzen hinweg.

 

Während Atomrüstung die Angst vor Auslöschung schürte, sorgten zugleich technischer Fortschritt und Wirtschaftswachstum für ungekannte Aufbruchstimmung. Wie euphorisch sie war, demonstriert der Kurzfilm „Le Chant de styrène“ (1958) von Alain Resnais; er sollte im Jahr darauf mit „Hiroshima mon amour“ Filmgeschichte schreiben. Fasziniert gleitet die Kamera an blitzblanken Öltanks, Rüttel- und Spinnmaschinen entlang: Durch Kunststoffe entsteht eine neue Welt.

 

Dürftige Pop Art in der Planwirtschaft

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Der geteilte Himmel: Die Sammlung 1945–1968" - exzellenter Überblick über die Kunst der Nachkriegszeit in der Neuen Nationalgalerie, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Aufbruch. Malerei und realer Raum" über experimentelle Kunst der 1950/60er Jahre in Berlin, Würzburg + Rostock

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "ZERO – Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre" - große Retrospektive zu Op-Art + kinetischer Kunst im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "geteilt | ungeteilt: Kunst in Deutschland 1945 bis 2010" - profunder Überblick in der Galerie Neue Meister im Albertinum, Dresden.

 

Solche Aufbruchstimmung ließ schon in den 1950er Jahren die Zahl der Kunst-Strömungen förmlich explodieren; die Ismen jagten einander. Die Ausstellung bemüht sich, dem eine Entwicklungslogik zu unterlegen, doch damit lässt sich die Vielfalt nicht bändigen: Sie kann nur mehr oder weniger prägnante Beispiele für alle Spielarten aneinander reihen.

 

Dabei fällt auf: Die meisten wurden in Westeuropa erfunden, aber im Osten schnell adaptiert. Allerdings unterschiedlich überzeugend: In Staaten des Warschauer Pakts entstand sehr gelungene Op-art und kinetische Kunst – das Spiel mit optischen und physikalischen Phänomenen war weltanschaulich neutral. Dagegen wirkt Pop Art aus diesen Ländern etwas dürftig: Eine überbordende Warenwelt, die Parodie und Konsumkritik erst sinnvoll macht, fehlte in der Planwirtschaft.

 

Unübersichtliches Füllhorn

 

Diese Gemengelage aus Stilen, die sich zeitlich und geographisch überlappen und gegenseitig beeinflussen, will die Schau akribisch ordnen: mit langen Zeitleisten, die alle relevanten Ereignisse auflisten, und einer Unterteilung in viele kleine Kabinette. Vergebens: Dafür ist diese Kunstepoche zu vielgestaltig und experimentierfreudig.

 

Wenn sich an diesem Total-Panorama etwas bemängeln lässt, dann höchstens seine Überfülle: 500 meist großformatige Exponate und Dutzende von Texttafeln überfordern jeden Besucher. Am besten betrachtet man es als Fundgrube; da lassen sich allerhand interessante Arbeiten von Künstlern entdecken, die sonst im hiesigen Kunstbetrieb kaum vorkommen. Europa ist eben ein kulturelles Füllhorn, das weder Brüssel noch sonst jemand vollständig kennt.