
Ein Mann wacht auf und blickt sich verstört um. Er ist allein, fühlt sich fremd und verloren. Doch mit Geduld und Spucke, Tatkraft und Erfindungsgeist richtet er sich allmählich in seiner neuen Umgebung ein. So beginnt „Robinson Crusoe“ (1717) von Daniel Defoe: Der erste englische Roman buchstabiert das Selbstverständnis moderner Individualität mustergültig aus. So beginnt auch „Passengers“ von Regisseur Morten Tyldum: als science fiction-Robinsonade im Weltraum.
Info
Passengers
Regie: Morten Tyldum,
116 Min., USA 2016;
mit: Jennifer Lawrence, Chris Pratt, Michael Sheen, Laurence Fishburne
Pool mit Milchstraßen-Panorama
Da trifft sich gut, dass Jim ein pragmatischer Maschinenbau-Ingenieur ist. Nachdem sein Versuch scheitert, die Schlaf-Kiste mit dem Werkzeugkasten zu reparieren, fügt er sich ins Unvermeidliche und macht das Beste daraus. Die „Avalon“ hat ihm viel zu bieten: Als Mix aus Kreuzfahrtschiff und Freizeitpark von Kleinstadt-Ausmaßen lockt sie mit Attraktionen wie basketball-Platz und swimming pool mit Milchstraßen-Panorama, cinemascope-Kino und disco mit Hologramm-Tänzern.
Offizieller Filmtrailer
Jahrzehntelang Gläser putzen
In drei Edel-Restaurants servieren Roboter-Kellner Delikatessen; an der art deco-Bar freut sich Android Arthur (Michael Sheen), nach jahrzehntelangem Gläserputzen endlich seinen ersten Gast begrüßen zu können. Sogar kurze Weltraum-Spaziergänge im space suit an der langen Leine sind möglich. Jim kostet alles aus und durchläuft dabei die klassischen Stadien jedes expat in der Fremde: Euphorie, Ernüchterung, Frustration – und aktive Anpassung.
Denn über seine kosmische Einsamkeit trösten ihn auch die allabendlichen Theken-Plaudereien mit Arthur nicht hinweg. Defoe gesellte seinem Robinson den Insulaner „Freitag“ als Gefährten bei. 300 Jahre später darf Jim seine Traumfrau aus ihrem Schneewittchen-Winterschlaf holen: Aurora (Jennifer Lawrence) ist Autorin aus New York. Als erster Mensch wollte sie die Rundreise nach „Homestead II“ und zurück machen, um nach 240 Jahren die ultimative space travel story zu veröffentlichen.
Kammerspiel im XXL-Format
Stattdessen erlebt sie nun die gleichen Phasen wie zuvor ihr Partner, der sie dabei so souverän wie taktvoll begleitet – bis sie ihm ihre Gunst gewährt. Adam und Eva im high tech-Paradies: Pratt und Lawrence spielen das beeindruckend nuanciert, mit allen Zwischentönen von Anziehung und totaler Fixierung – es ist ja kein anderer da – bis zu Abstoßung und radikalem Bruch: Du hast mein Leben ruiniert!
Hintergrund
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SFX übernehmen das Kommando
Defoe zauberte ein englisches Schiff herbei, dessen Besatzung gegen ihren Kapitän meuterte; Robinson besiegte deren Rädelführer, um mit dem Schiff zurück nach England zu segeln. In diesem Film ist der störende Eindringling ein Asteroid, der irgendetwas beschädigt und damit eine Kettenreaktion ausgelöst hat.
Nun scheinen die Produzenten gegen Regisseur Morten Tyldum zu meutern; der Norweger drehte 2014 das faszinierende biopic „The Imitation Game“ über den Informatik-Pionier Alan Turing, das für acht Oscars nominiert wurde. Doch in „Passengers“ übernehmen special effects das Kommando: Überall blitzt, lodert und kracht es bombastisch. Das Protagonisten-Paar mutiert flugs zu Superhelden, die mit übermenschlichen Kräften ihre 4997 Mitreisenden vor dem ewigen Kälteschlaf retten.
Schwereloses Schwimmbad
Selten hat sich ein anfangs absolut stimmiger Film im letzten Drittel derart selbst sabotiert: Daran ändern auch spektakuläre Schauwerte wie ein Schwimmbecken voller Wasser in der Schwerelosigkeit wenig. Drängten vielleicht um ihr Geld bangende Investoren darauf, mit viel Kawumm auch das popcorn-Publikum anzusprechen? Dann wäre ihr Kalkül aufgegangen: Schon zwei Wochen nach dem US-Start hat „Passengers“ die Produktionskosten wieder eingespielt. Die Wirkungsgeschichte von „Robinson Crusoe“ wird der Film allerdings nicht erleben: Jim und Aurora sind keine role models für die Auswanderung ins All.