Felix Ruckert

Violently Happy

Ein Kuss mit Felix Ruckert. Foto: Zorro Film
(Kinostart: 26.1.) SM-Erotik, Tanz und Großfamilien-Lebensgefühl: All das bringt der Choreograph Felix Ruckert in seiner "Schwelle 7" zusammen. Regisseurin Paola Calvo dokumentiert ein utopisches Gegenmodell zum allgegenwärtigen Geschäft mit dem Sex.

Samstagnacht + Montagmorgen

 

Traditionell wird solch „abweichendes Verhalten“ entweder karnevalesk ins Lächerliche gezogen oder dämonisiert und bestraft. In der Gegenwart wird „abweichende“ Sexualität toleriert, solange sie die Leistungsfähigkeit im Berufsleben nicht schmälert: Samstagnacht kann man ecstasy schlucken und sich im KitKatClub ein wenig peitschen lassen. Solange man am Montagmorgen pünktlich im Büro erscheint, möglichst sexuell befriedigt und dadurch höher motiviert – prima!

 

Das Leben in der Schwelle 7 weist darüber hinaus. Es begreift diesen Raum nicht als gesellschaftlich regulierte Zone, sondern als autonomes Gebiet – als Entwurf einer Gegengesellschaft. Dort bricht man mit dem festgelegten Schema von Oben und Unten und lässt stattdessen die Annahme zu, dass alle Menschen Impulse zu Dominanz oder Unterwerfung in sich tragen. Dass die Erfahrung von Schmerz chemische Effekte auf die Sinne hat, zählt zum evolutionären Erbe ihrer Körper. Welche persönlichen Tendenzen aufgrund von Kultur und Biographie dazu kommen, gilt es unter sicheren und kontrollierten Umständen zu entdecken.

 

Orientierungshilfe für Interessierte

 

Bleibt die Frage, was Regisseurin und Darsteller motiviert: Warum zeigen sie sich in so intimen Momenten einem anonymen Publikum? Ruckert dürfte kaum die Popularität seines kleinen Reiches steigern wollen; tatsächlich existiert die Schwelle 7 in der von diesem Film präsentierten Form nicht mehr. War sie vielleicht nur eine Kommune mit Guru, die nach heutigem Konsens eher ein Fall für den Sektenbeauftragten wäre als fürs Kino?

 

Hintergrund

 

Website von Schwelle-7-Gründer Felix Ruckert

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Sexarbeiterin" – Doku-Porträt einer Erotik-Masseurin mit BDSM-Repertoire von Sobo Swobodnik

 

und hier eine Besprechung des Films "Remedy" – SM-Dokudrama über New Yorker Domina-Studio von Cheyenne Picardo

 

und hier einen Bericht über den Film "Fifty Shades of Grey" – Verfilmung einer SM-Romanze durch Sam Taylor-Johnson mit Dakota Johnson

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "I killed my dinner with karate" – körperbetonte Tanz-Fotografie von Franziska Strauss in der Neuen Sächsischen Galerie, Chemnitz.

 

Versuch einer Antwort: Das Berliner Stadtmagazin „tip“ macht in seiner aktuellen Ausgabe eine neue Welle von Fetisch- und sex partys aus und zum Titelthema; auch andernorts werden Aspekte der hiesigen BDSM-Subkultur wieder einmal ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Da ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn Interessierte etwas Orientierungshilfe bekommen, ob SM eventuell das Richtige für sie ist – oder ob eher ein halbes Jahr Indien für sie besser wäre.

 

BDSM als kreativer Prozess

 

Während sich die Gesellschaft derzeit in Richtung Vereinzelung, Entkörperlichung und ständiger Befriedung des Belohnungs-Zentrums entwickelt, repräsentiert die Schwelle 7 das genaue Gegenteil. Hier ist gefragt, was smartphones unter Menschen zerstören: direkter Kontakt, Geduld und viel Vertrauen.

 

Die Akteure des Films begreifen BDSM nicht als „Abreagieren“ von störenden Impulsen, sondern als kreativen Prozess, für den jedes Machtgefälle zunächst abgebaut werden muss, anstatt es zu befestigen oder zeitweise auf den Kopf zu stellten. Es stimmt, dass diese Gruppe mit Ruckert einen Leiter hat und ihre Aktivitäten nicht ohne eine gewisse Hierarchie auskommen. Doch ob jemand einen Lehrer braucht, kann er oder sie selbst entscheiden.

 

Experimentelle noise band ohne Vertrag

 

Insofern verhält sich die im Film porträtierte Mikro-community zum sex business im weitesten Sinne wie eine experimentell und kollektiv improvisierende noise band ohne Plattenvertrag zum gesamten Rest der Musikindustrie: Man muss ihre Klänge nicht mögen – oder die Leute, die sie machen. Aber niemand kann bestreiten, dass sie ihr Thema bis in die äußersten und also interessantesten Winkel ausloten. Insofern ist „Violently Happy“ tatsächlich avantgarde, und die Mitspieler sind im besten Wortsinn Pioniere.