Ein herrliches Mietshaus in bester Pariser Innenstadtlage: Jede Wohnung ist ein 300 Quadratmeter großer Immobilientraum aus Zeiten, in denen die Welt noch in Ordnung schien – Parkettböden, Stuck, französische Fenster, Dienstmädchen und gesellschaftliche Hierarchie inklusive.
Info
Madame Christine und ihre unerwarteten Gäste
Regie: Alexandra Leclère,
120 Min., Frankreich 2015;
mit: Karin Viard, Didier Bourdon, Valérie Bonneton
Untermieter per Dekret
So unterschiedlich die Bewohner des Hauses auch sein mögen, eines haben sie alle gemein: Sie leben verschwenderisch großzügig. Das ist natürlich legitim, aber in Zeiten von akutem Wohnungsmangel auch ein moralisches Problem. Daher erlässt die französische Regierung im Film von Alexandra Leclères ein umstrittenes Dekret: Aufgrund einer extremen Kältewelle müssen alle Menschen, denen mehr Wohnraum als nötig zur Verfügung steht, Bedürftige als Untermieter bei sich aufnehmen.
Offizieller Filmtrailer
Solidarität endet an der Türschwelle
Mit diesem originellen Gedankenspiel entspinnt sich nun eine provokante und überdrehte Komödie über Gutmenschen, Rassismus, Vorurteile, Helfer-Syndrome und eine Menge Egoismus. Französische Komödien über soziale Missstände und Ungerechtigkeiten haben in den letzen Jahren Hochkonjunktur. Dass der deutsche Titel dem des Kassenerfolgs „Monsieur Claude und seine Töchter“ ähnelt, ist sicher kein Zufall; der französische Originaltitel „Le Grande Partage“ („Das große Teilen“) trifft die Sache besser.
„Hätte ich doch niemals links gewählt!“, entfährt es Béatrice Bretzel (Valérie Bonneton), jener alternativen Mutter aus dem loft, die kürzlich noch auf einer großen Demo gegen Wohnungsnot mitlief. Doch an der eigenen Türschwelle endet jede Solidarität abrupt. Alle Mietparteien des Luxushauses entwickeln nun ihre eigenen Strategien, um mit der ungeliebten Verordnung umzugehen. Einige nutzen die neuen Untermieter als willkommene Ablenkung von ihrer Einsamkeit; Andere tricksen und bestechen, um das vermeintliche Unheil abzuwenden.
Madame rächt sich für Lieblosigkeit
Ehepaar Dubreuil holt sogar Pierres Mutter aus dem Altenheim zurück und bezahlt die Haushälterin als Scheinmieterin, um das zulässige Verhältnis von Wohnfläche pro Person einzuhalten. Doch solches Durchmogeln findet ein jähes Ende, als Madame Christine selbst die Sache in die Hand nimmt: Sie meldet die Trickserei ihres Mannes und ihrer Nachbarn den Behörden. Madame Christine erträgt die Bigotterie und die Meckerei ihrer Mitmenschen nicht mehr. Und was wäre eine bessere Rache für jahrelang ertragene Lieblosigkeit, als die Spötter aus ihrer Komfortzone zu verjagen?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Nur wir drei gemeinsam" – bewegende iranisch-französische Migranten-Tragikomödie von Kheiron
und hier eine Besprechung des Films “Monsieur Claude und seine Töchter” – französische Multikulti-Komödie von Philippe de Chauveron
und hier einen Bericht über den Film “Die Farbe des Ozeans” – intensives Flüchtlings-Drama auf Gran Canaria von Maggie Peren
und hier einen Beitrag über den Film "Mein Stück vom Kuchen" – originelle Klassenkampf-Komödie von Cédric Klapisch mit Karin Viard.
Tauschbörse für Mitbewohner
Ein culture clash wie aus dem Bilderbuch erschüttert nun das feine Haus: Die ehrbaren Bürger vergessen ihre gute Kinderstube und ergehen sich in rassistischen Sprüchen, Heuchelei und jeder Menge Verlogenheit. Natürlich verändert das Beisammensein alle Beteiligten: Grantler und Gutmenschen erhalten bald eine Lektion in Sachen Nächstenliebe und Solidarität.
Regisseurin Leclère hat genau hingeschaut und den Reigen der zahlreichen Rechtfertigungen, Lügen und Strategien raffiniert aufbereitet. Sie findet das rechte Maß zwischen Überhöhung und bitterer Wahrheit. Die offen rassistische concierge erfindet etwa eine lukrative Tauschbörse, um unliebsame Mitbewohner gegen etwas passendere Kandidaten auszutauschen: „Ob sie es glauben oder nicht, einigen ist die Hautfarbe egal!“
Flucht ins Märchenreich
Was äußerst reizvoll anfängt, entwickelt aber im Verlauf doch ein paar grobe Schwächen: Sobald der Läuterungsprozess in Gang kommt, verlieren Figuren und Konflikte stark an Glaubwürdigkeit. Zu holzschnittartig entwickeln sich die Charaktere; sie werden so überzeichnet, dass sich Mitgefühl und Anteilnahme nicht mehr einstellen mag. Handfeste Konflikte lösen sich ins Rosarote auf; eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema verflüchtigt sich im Märchenreich. Schade, dass Regisseurin Leclère nicht den Mut hatte, so unbequem zu enden, wie sie begonnen hat.