Asghar Farhadi

The Salesman

Rana (Taraneh Alidoosti) und Emad (Shahab Hosseini). Foto: © 2016 PROKINO Filmverleih GmbH
(Kinostart: 2.2.) Haus kaputt, Gesellschaft marode: Sein neues Beziehungsdrama erweitert Asghar Farhadi, der Ingmar Bergman des Iran, zu einem Panorama von oben und unten, Moderne und Tradition – dafür genügt ein ungebetener Besucher.

Das Ende ist der Anfang: Mitten in der Nacht werden die Bewohner eines Hauses in Teheran geweckt. Ihr Haus droht einzustürzen, weil zwei Bagger bei Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück das Fundament beschädigt haben. Panisch verlassen alle Mieter ihre Wohnungen, in die sie später nur noch zurückkehren dürfen, um ihre Sachen zu holen.

 

Info

 

The Salesman

 

Regie: Asghar Farhadi,

125 Min., Iran/ Frankreich 2016;

mit: Sahab Hosseini, Taraneh Alidoosti, Babak Karimi

 

Website zum Film

 

Unter den Evakuierten sind auch Rana (Taraneh Alidoosti) und Emad (Shahab Hosseini), ein junges Paar aus der Mittelschicht, die mit ihrem Verhalten auch in jeder westlichen Großstadt leben könnten. Emad unterrichtet eine Schulklasse von Jungen in Literatur. In ihrer Freizeit spielen er und seine Frau Theater. Auf der Bühne verkörpern sie Linda und Willy Loman aus Arthur Millers Stück „Tod eines Handlungsreisenden“ (1949). Die Zensurbehörde schaut der Truppe ständig auf die Finger, aber innerhalb der abgesteckten Grenzen können sie ihr Künstlerdasein entfalten.

 

Ein fataler Entschluss

 

Als Theaterkollege Babak (Babak Karimi) von Ranas und Emads Wohnungsnot erfährt, bietet er ihnen ein leerstehendes Appartement an. Einziger Haken: Die Vormieterin muss noch ihre Sachen abholen. Da bezahlbare Wohnungen im rasant wachsenden Teheran rar sind, nehmen die Eheleute das Angebot an.

Offizieller Filmtrailer


 

Wie im Film, so im Theater

 

Eines Abends kommt es in der Wohnung zu einem folgenreichen Vorfall. Rana ist allein zu Hause. Da klingelt es unten am Haupteingang, und sie drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage, ohne nachzufragen. In Erwartung ihres Mannes geht sie ins Bad und lässt die Tür offen. Schnitt. Wenig später findet Emad seine Frau im Krankenhaus wieder. Ihre Kopfverletzung ist nur das sichtbare Zeichen einer weit schlimmeren Wunde.

 

Regisseur Asghar Farhadi, der 2011 für sein Scheidungs-Drama „Nader und Simin – eine Trennung“ den Auslands-Oscar erhielt, erzählt meisterhaft von den komplexen Beziehungen seiner Figuren, die geprägt sind von den gesellschaftlichen Bedingungen und vice versa. In einem Interview betont er die Parallele zwischen dem im Film thematisierten Theaterstück und der aktuellen Situation im Iran: „Menschen, die sich der rasenden Modernisierung nicht anpassen konnten, kamen unter die Räder. Auch in meiner Heimat ändern sich die Dinge in atemberaubender Geschwindigkeit, und entweder kommt man mit oder man geht drauf.“

 

Früher Sehnsucht, heute Finsternis

 

Im Laufe des Films übertragen sich die Gefühle der Protagonisten zunehmend auf die Bühnenfiguren, die sie spielen. Das Theater wird zum stellvertretenden Ort, an dem sie ihre Konflikte austragen. Gleichzeitig werden im eigentlichen Leben von Emad und Rana Parallelen zum Bühnengeschehen sichtbar.

 

Der Iran ist häufig Thema der medialen Berichterstattung; das dortige Alltagsleben jedoch dürfte den meisten Europäern unvertraut sein. War Persien im 19. Jahrhundert ein verklärter Sehnsuchtsort des Orientalismus in Kunst und Architektur, gilt es heute gemeinhin als ein von dogmatischen Mullahs regiertes Reich der Finsternis, das die Welt potentiell mit Atomwaffen bedrohen will.

 

Gleiche Welt, andere Milieus

 

Farhadi zeigt hingegen eine moderne Gesellschaft mit starken sozialen Gegensätzen; besonders zwischen den Milieus westlich orientierter Akademiker wie Emad und Rana und Kleinbürgern, die stark an kulturellen Traditionen festhalten. Diese wirken aber auch bei modernen Iranern fort: Selbst Eheleute sprechen untereinander das Unsagbare oft nicht aus – und halten damit die sprachlichen Tabus der Gesellschaft ein.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films „Le Passé – Das Vergangene“Beziehungs-Drama mit Tahar Rahim von Asghar Farhadi

 

und hier einen Bericht über den Film „Nader und Simin – eine Trennung“  – Oscar-prämiertes Meisterwerk über eine Ehekrise von Asghar Farhadi

 

und hier einen kultiversum-Beitrag über Alles über Ellyfesselndes Psycho-Drama im Iran von Asghar Farhadi

 

Obwohl der Film keinen Zweifel daran lässt, was Rana zugestoßen ist, wird es nicht benannt. Statt von Vergewaltigung ist nur davon die Rede, sie sei im Bad ausgerutscht. Und anstatt die Vormieterin als Prostituierte zu bezeichnen, heißt es, sie hätte viel Besuch gehabt.

 

Abriss + Neubau

 

Durch diese Tabus steht Emad dem Leid seiner Frau recht hilflos gegenüber. Er fühlt sich in seiner männlichen Ehre gekränkt und bloßgestellt; daher sucht er wie besessen nach dem unbekannten Täter. Als er ihn findet, ist Emad überrascht von dessen seltsam lächerlicher Erscheinung. Zwischen ihm und dem Täter gibt es weder soziale noch intellektuelle Verbindungen; diese Fremdheit lässt die Situation am Ende eskalieren.

 

Regisseur Farhadi erzählt die Geschichte mit einfachen, aber präzisen Mitteln. Dabei stützt er sich auf ein herausragendes Darstellerensemble, mit dem er schon in seinen früheren Filmen zusammengearbeitet hat. Auch Teheran selbst als hektische Millionen-Metropole, die ständig weiter wuchert, spielt eine wichtige Rolle.

 

Einmal bemerkt Emad auf einer Dachterasse: „Man müsste diese ganze Stadt abreißen und neu aufbauen.“ Die Bagger der Anfangsszene untergraben nicht nur die Fundamente seines Hauses, sondern der ganzen Gesellschaft, die heftigen Erschütterungen ausgesetzt ist.