Marie-Castille Mention-Schaar

Der Himmel wird warten

Die 17-jährige Sonia (Noémie Merlant) hat sich dem Dschihad angeschlossen. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 23.3.) Terror im Kinderzimmer: In ihrem neuen Film erzählt die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar von zwei Mädchen, die sich von den Lockrufen des "Islamischen Staats" verführen lassen - analytisches Dokudrama mit Bildungsauftrag.

Wie lässt sich nachvollziehen, dass sich junge, intelligente Mädchen aus dem Westen freiwillig dem Dschihad anschließen? In „Der Himmel wird warten“ widmet sich die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar einem Tabuthema: Der Radikalisierung und Rekrutierung junger Menschen mithilfe sozialer Netzwerke durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“, kurz „IS“.

 

Info

 

Der Himmel wird warten

 

Regie: Marie-Castille Mention-Schaar,

105 Min., Frankreich 2016;

mit: Noémie Merlant, Naomi Amarger, Sandrine Bonnaire

 

Website zum Film

 

Mention-Schaar hat das Genre des fiktiven Dokumentarfilms gewählt – und mithilfe von gründlichen Recherchen in Kreisen von Betroffenen zwei Figuren entworfen, die sich auf die schmerzliche Reise der Radikalisierung begeben: Die 17-jährige Sonia (Noémie Merlant) und Mélanie (Naomi Amarger), 16 Jahre alt.

 

Liebevolle Familien

 

Sonias Familie schläft friedlich, als plötzlich die Haustür aufgebrochen wird und eine Sondereinheit der Polizei das Haus stürmt. Sonia wird verhaftet, weil sie sich der Terrormiliz Islamischer Staat angeschlossen und einen Anschlag geplant hat. Ein Alptraum für die liberalen Eltern Catherine (Sandrine Bonnaire) und Samir (Zinedine Soualem). Doch die Mutter gibt nicht auf – und setzt durch, dass ihre Tochter die Strafe zu Hause absitzen kann. Fußfessel, Internet- und Handyverbot – die Auflagen sind streng, aber die eigentliche Zerreißprobe steht der Familie noch bevor.

Offizieller Filmtrailer


 

Mühsamer Weg aus der Radikalisierung 

 

Die muslimische Sozialarbeiterin Dounia Bouzar, die auch im wahren Leben Gründerin und Beraterin bei „CPDSI“, einem Zentrum für Prävention und Deradikalisierung ist, sucht das Gespräch mit dem verwirrten Mädchen. Sonia ist hasserfüllt und versucht, an ihrem Glauben festzuhalten – die monatelange Indoktrinierung hat tiefe Spuren hinterlassen. Der Weg aus der Radikalisierung ist mühsam. Nur langsam findet sie wieder zu sich selbst und versteht, was ihr passiert ist.

 

Schnitt. Ein unbeschwerter Moment auf dem Rummel: Ein Mädchen bestellt Zuckerwatte. Faden für Faden entspinnt sich aus der zuckrigen Mitte und umschlingt den Holzstab. Ein zartes und doch dichtes Gewebe aus tausenden Fäden verstrickt sich zu einem undurchsichtigen Gebilde, das nicht mehr zu entwirren ist. Die französische Filmemacherin findet einen starkes Bild für ihr zweites Beispiel: Indoktrinierung und Radikalisierung durch raffinierte Gehirnwäsche. Ein schleichender Prozess, der völlige Selbstaufgabe zur Folge hat.

 

Ein Junge, der ihr zuhört

 

Sylvie (Clotilde Courau) und ihre Tochter Mélanie haben ein enges Vertrauensverhältnis. Mélanie hat Humor, ist musikalisch, engagiert sich für soziale Zwecke und liebt ihre Oma. Als sie stirbt, ist Mélanie hilflos und traurig. Wie gut, dass sie auf Facebook Mehdi kennenlernt, der ihr zuhört und sie versteht. Er teilt ihre Gedanken über das Leben und den Tod und beeindruckt sie mit seiner klaren und tief religiösen Weltanschauung.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films „Die Schüler der Madame Anne“französisches Pädagogik- Drama über NS-Aufklärung im Unterricht von Marie-Castille Mention-Schaar

 

und hier einen Bericht über den Film „Timbuktu“ über islamistischen Terror in Nordafrika von Abderrahmane Sissako

 

und hier einen Beitrag über den Film „Stein der Geduld“  – Frauen-Porträt aus Afghanistan mit Golshifteh Farahani von Atiq Rahimi

 

Mélanie legt ihr Handy kaum noch aus der Hand, chattet jede freie Minute und verliert sich in den Weiten des Internets. Die Gespräche  mit dem Jungen liefern so viele Antworten auf ihre Fragen – bis plötzlich alles einen Sinn ergibt. Mélanie findet in der Religion schließlich Trost und Halt. Unter dem Deckmantel von Gläubigkeit zieht sich die Schlinge immer enger zusammen. Sie kann kaum erwarten, ihren Freund in Syrien zu sehen und macht sich bereit für die Abreise. Kann Sylvie ihre Tochter noch retten?

 

Kein reiner Aufklärungsstreifen 

 

Dreh- und Angelpunkt in „Der Himmel wird warten“ ist eine Beratungsstunde bei der Sozialarbeiterin Bouzar. Hier suchen alle Antworten auf unverständliche Fragen. Die beiden Handlungsträge der Geschichten von Sonia und Mélanie sind miteinander verwoben. Nur nach und nach stellt sich heraus, in welcher Reihenfolge die Geschehnisse stattgefunden haben.

 

Jener narrative Kniff rettet den Film davor, ein reiner Aufklärungsstreifen zu sein. Stattdessen stellt er den Prozess von Manipulation und emotionaler Abhängigkeit in allen Details dar. Sehr behutsam tastet sich Mention-Schaar an ihre Protagonistinnen heran und versucht, die Abläufe verständlich zu machen. Das macht Sinn, ist aber nicht sehr künstlerisch. Aber die wichtige Botschaft sei über ästhetische Ansprüche gestellt. Vielleicht kann der klare Blick von außen den ein oder anderen Teenager vor der Verführung des „IS“ bewahren.