
In buddhistischen Schöpfungsmythen gibt es die Erzählung von einer kosmischen Schildkröte, die die Welt auf ihrem Panzer trägt. Auf einigen Südseeinseln ist die Vorstellung verbreitet, dass Meeresschildkröten Mittler zwischen dem Diesseits und dem Jenseits sind. Dass Schildkröten mythenumwoben sind, liegt vielleicht auch daran, dass sie bereits seit 220 Millionen Jahren die Erde bevölkern, rund einhundert Mal länger als die Menschheit.
Info
Die Rote Schildkröte
Regie: Michael Dudok de Wit,
94 Min., Frankreich 2016;
mit: Maud Brethenoux, Mikael Dumoussaud, Elie Tertois
Das Paradies als Gefängnis
Die zeigt sich anfangs von ihrer rauen Seite: Ein Sturm spült einen namenlosen Mann auf ein winziges, tropisches Eiland: Strand, Lagunen, bunte Vögel, Krabben und ab und an eine Robbe. Die Tropen sind hier kein kitschiges Paradies, sondern von karger Schönheit.
Offizieller Filmtrailer
Rache des Mannes, Rache der Natur
Den Mann packt in seiner existenziellen Einsamkeit bald die Verzweiflung. Er träumt von seiner Flucht aus dem Inselgefängnis und hat Visionen, etwa von einem klassischen Streicherquartett, das am Strand spielt. Und das wacklige Floß, das er wieder und wieder baut, wird ständig von einer geheimnisvollen, roten Schildkröte zerstört, bevor es das offene Meer erreicht.
Als das Reptil eines Tages auf die Insel kommt, rächt sich der Gestrandete. Er dreht das Tier auf den Rücken, wo es, bewegungsunfähig, der Sonne ausgesetzt ist. Dieser Akt der Grausamkeit tötet das Tier aber nicht, sondern verwandelt es in eine Frau. Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte, bei der später ein Kind geboren wird, das in enger Verbindung mit dem Meer aufwächst. Auch die Eltern leben nun im Gleichklang mit der Natur. Bis eines Tages ein Tsunami das Eiland überrollt.
Realistische Animationen
Der niederländische Filmemacher erzählt die Geschichte in elegant gezeichneten, minimalistischen Animationen, die sehr realistisch wirken. Der Einsatz von brillanten Farben wechselt sich ab mit monochromen tableaux. Besonders schön sind die Unterwasserszenen, wenn sich das Sonnenlicht im Wasser bricht und in der Tiefe verliert. Die Figuren scheinen dann im Wasser zu schweben.
Hintergrund
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Alles handgezeichnet
Den erzählerischen und visuellen Minimalismus hat Dudok de Wit bereits in früheren Kurzfilmen kultiviert. Sein erster Langfilm entstand nun in Zusammenarbeit mit dem berühmten Studio Ghibli in Japan, das seit „Chihiros Reise ins Zauberland“ auch in Europa bekannt ist. Wie viele Ghibli-Produktionen entstand auch „Die rote Schildkröte“ auf Grundlage handgezeichneter Bilder.
Diese Bilder sind symbolisch hoch aufgeladen. Viele Szenen wirken wie Metaphern. So stürzt der Gestrandete einmal in eine Kluft, aus der er nur durch einen engen unter Wasser liegenden Kanal entkommt. Seine Rettung gleicht einer Wiedergeburt. Der Film ist eine gelungene Allegorie auf die menschliche Existenz, die frei von gesellschaftlichen Einflüssen imaginiert wird, als Teil des Naturkreislaufes. Eine Feier des Lebens, die den Schmerz wie die Freude affirmiert – diese universale Botschaft wird wohl überall verstanden.