Katrin Rothe

1917 – Der wahre Oktober

Der Osten leuchtet rot: Avantgarde-Dicheter Wladimir Majakowski (Maximilian Brauer), nur echt mit gelber Krawatte, erklärt die Oktoberrevolution. Foto: maxim film
(Kinostart: 11.5.) Der Triumph der Bolschewiki als monumentale Bastelarbeit: Zum 100. Jahrestag der russischen Revolution stellt Filmemacherin Katrin Rothe sie als Trickfilm nach – eine animierte Geschichtsvorlesung aus der Sicht von fünf Künstlern.

So vergeht der Ruhm der Welt: Bis Ende des 20. Jahrhunderts galt die russische Revolution von 1917 als eines der wichtigsten Ereignisse desselben. Dass mit der Oktoberrevolution ein völlig neuer Typ von Staat und Gesellschaft entstanden sei, war allgemein anerkannt. Mochte auch die kommunistische Ideologie entzaubert und die Sowjetunion 1990 zerfallen sein – die Bedeutung ihrer Gründung minderte es nicht.

 

Info

 

1917 – Der wahre Oktober

 

Regie: Katrin Rothe,

90 Min., Deutschland/ Schweiz 2016;

 

Website zum Film

 

Zwei Jahrzehnte später sieht das ganz anders aus. Im Kreml regieren Geheimdienst-Bosse, die ihr Herrschafts-System mit allerlei Versatzstücken legitimieren: orthodoxer Heilslehre, zaristischem Nationalismus und stalinistischem Siegeskult. Diese allrussische patchwork-Ideologie kann mit der Verheißung einer klassenlosen Gesellschaft, die Lenin und Trotzki vor 100 Jahren verkündet hatten, nicht viel anfangen – die übrige Welt noch weniger.

 

Ein halbes Jahr Doppelherrschaft

 

Dass die Machtübernahme der Bolschewiki nur einer von zwei politischen Umstürzen 1917 war, ist fast vergessen. Bereits im Februar dankte der Zar ab, weil sein Apparat der Aufstände kriegsmüder Arbeiter nicht mehr Herr wurde. Die Duma, das russische Parlament, setzte eine provisorische Regierung unter Alexander Kerenski ein. Zugleich bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte („Sowjets“), die ihr die Macht streitig machten. Diese so genannte Doppelherrschaft endete mit dem erfolgreichen Putsch der Bolschewiki.

Offizieller Filmtrailer


 

Fünf Künstler in Petrograd

 

Die wichtigsten Etappen der so bewegten wie verworrenen Monate zwischen Februar und Oktober 1917 dröselt die Filmemacherin Katrin Rothe in ihrem Animations-Dokumentarfilm minutiös auf. Aus sehr speziellem Blickwinkel: Die Geschehnisse werden aus der Sicht von fünf russischen Künstlern nacherzählt – mithilfe von Auszügen aus ihren damaligen Aufzeichnungen.

 

Alle fünf Protagonisten standen damals in der Hauptstadt Petrograd miteinander in Kontakt – trotz sehr unterschiedlicher Überzeugungen. Die Lyrikerin Sinaida Hippius sowie der Maler und Kunstkritiker Alexander Benois gehören zum großbürgerlichen establishment. Sie beobachten die Vorkommnisse voller Skepsis von den Fenstern ihrer luxuriösen Wohnungen aus. Nach dem Sieg der Bolschewiki bleibt ihnen nur die Flucht ins Exil.

 

Vorzeige- + Selbstmord-Künstler

 

Der Schriftsteller Maxim Gorki kommt hingegen aus ärmsten Verhältnissen. Er ist persönlich mit Lenin befreundet, doch zugleich erfüllen ihn die revolutionären Ereignisse mit großer Sorge um den Erhalt der russischen Kulturgüter. Später wird er zum systemkonformen Vorzeigekünstler avancieren.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der junge Karl Marx"hervorragendes Biopic über den Philosophen von Raoul Peck mit August Diehl

 

und hier eine Besprechung des Films "Im Krieg – Der 1. Weltkrieg in 3D" – historische Doku mit animierten Stereoskopie-Fotos von Nikolai Vialkowitsch

 

und hier eiinen Bericht über die Ausstellung "Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde" über Kubofuturismus + Suprematismus in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schwestern der Revolution" über die Künstlerinnen der russischen Avantgarde im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen.

 

Der Avantgarde-Künstler Kasimir Malewitsch und der futuristische Dichter Wladimir Majakowski begrüßen wiederum den Umbruch; sie erwarten sich von ihm eine völlig neue Gesellschaft. Beide ecken jedoch mit ihren Arbeiten bei den neuen Machthabern an. Malewitsch zieht sich ab 1930 in ein rätselhaftes Spätwerk zurück; im gleichen Jahr begeht Majakowski Selbstmord.

 

Legetrick-Figuren + Scherenschnitte

 

Ihre fünf Protagonisten erweckt Katrin Rothe zu filmischem Leben, indem sie die Akteure aufwändig als Legetrick-Figuren aus Papier und Pappe animiert. Scherenschnitte stellen meuternde Soldaten oder demonstrierende Massen dar; Siebdrucke, Zeichnungen und kolorierte tableaux dienen als Hintergründe, Panorama-Ansichten oder interieurs.

 

Diese animierten Szenen werden durch sparsam eingestreute Archivaufnahmen ergänzt. Zudem kommt immer wieder die Filmemacherin selbst ins Bild, während sie einen roten Zeitstrahl an eine Wand pinselt, Datumskärtchen darauf klebt oder Figuren und Zeichnungen arrangiert. So entsteht ein sehr eigenwilliger, verspielter look, dem man die Sorgfalt und Hingabe ansieht, die darin stecken.

 

Hunderte von Wahrheiten finden

 

Er verhindert gleichwohl nicht, dass der Film nach der ersten Hälfte immer mehr einer Geschichtsvorlesung gleicht. Die große Materialfülle wirkt auf Dauer ermüdend; auch die Bildideen wiederholen sich. Zudem fungieren die zitierten Intellektuellen zwar als Chronisten ihrer Epoche, doch sie bleiben dem Zuschauer als Menschen fremd, weil man kaum etwas über ihre Charaktere und sonstigen Lebensumstände erfährt.

 

Am Ende dieses ganzen Wusts aus Geschehnissen und Zitaten resümiert die Filmemacherin: „Ich wollte den wahren Oktober finden. Gefunden habe ich Hunderte von Wahrheiten – was bleibt, sind Worte und Werke.“ Dieses Fazit ist so richtig wie beliebig.