Cate Shortland

Berlin Syndrom

Clare (Teresa Palmer) und Andi (Max Riemelt) nach der ersten Nacht. Foto: © 2016 Berlin Syndrome Holdings, Fotoquelle: MFA+ Film
(Kinostart: 25.5.) Opfer des Berlin-Hype: Eine australische Touristin gerät in die Fänge eines Psychopathen. Regisseurin Cate Shortland gelingt ein fesselnder Thriller über die Beweggründe, warum manche Entführer ihre Opfer dauerhaft wegsperren wollen.

Psychothriller gibt es viele; doch Filme, die seelische Abgründe ausloten, sind eher selten – und noch seltener gut. Ausnahme-Charaktere beschwören Ausnahme-Situationen herauf; solche überzeugend darzustellen, scheint viele Regisseure zu überfordern. Nicht aber Cate Shortland, wie sie in ihrem dritten Spielfilm demonstriert.

 

Info

 

Berlin Syndrom

 

Regie: Cate Shortland,

116 Min., Australien/ Deutschland 2017;

mit: Teresa Palmer, Max Riemelt, Matthias Habich

 

Weitere Informationen

 

Eine alltägliche, fast belanglose Ausgangs-Situation baut die Australierin nach und nach zum fesselnden Porträt eines Psychopathen aus; es zieht den Zuschauer in seinen Bann und lässt zugleich die Beweggründe des Täters nachvollziehbar werden. Am Anfang kommt die australische Touristin Clare nach Berlin; hier wolle sie „Lebenserfahrung“ sammeln, sagt sie.

 

Nach dem zweiten Tag mitgehen

 

Mit ihrem Fotoapparat streift sie durch den Szene-Bezirk Kreuzberg; dabei lernt sie zufällig den jungen und smarten Englisch-Lehrer Andi kennen. Beide verstehen sich auf Anhieb so gut, dass Clare schon am zweiten gemeinsam verbrachten Tag zu ihm in seine Wohnung mitgeht. Er ist der einzige Mieter in einem ansonsten leer stehenden Altbau.

Offizieller Filmtrailer


 

Nie mehr verlassen werden

 

Was Andi mit den Worten „Hier hört dich keiner!“ betont, um zu Beginn ihres Liebesspiels Clares Zurückhaltung aufzulösen. Das macht seine Wohnung nicht nur zum optimalen Ort für hemmungslosen Sex, sondern auch – wie sich bald herausstellen wird – für sein perfides Vorhaben. Nach ihrer leidenschaftlichen Nacht gesteht ihr Andi, er wünsche sich, dass „alles für immer so bleibt“. Da ahnt Clare noch nicht, dass er dies allzu wörtlich meint – und ihm dafür jedes Mittel recht ist.

 

Sein Handeln motiviert der Film plausibel: Der junge Mann wurde als Kind von seiner Mutter verlassen. Was ihn offensichtlich so traumatisiert hat, dass er nun seine Sehnsucht nach emotionaler Nähe und Verbundenheit zu befriedigen versucht, indem er junge Frauen in seiner Wohnung gefangen hält. Um mit ihnen eine „ganz normale“ Beziehung zu führen: mit mitgebrachtem Blumenstrauß, gemeinsamem Kochen und sich lieben – was unter diesen Umständen für die Entführten natürlich unmöglich ist. Andis Ziel: Er will „nie mehr verlassen werden“.

 

Katz- + Maus-Spiel zwischen Kidnapper + Opfer

 

Wie viele Frauen er schon entführt hat, und was mit ihnen passiert ist, bleibt unklar. Allerdings ist Clare sicher nicht das erste Opfer – das wird für sie zur schrecklichen Gewissheit, als sie während Andis Abwesenheit eine verbotene Tür öffnet und dort eindeutige Spuren der Anwesenheit einer Vorgängerin findet.

 

Wer diesen Zweikampf um Macht und Kontrolle – aber auch um Liebe – gewinnen wird, bleibt lange offen. Das genretypische Auf und Ab hält Regisseurin Shortland geschickt in der Schwebe. Dadurch lässt die Spannung nie nach; ein derartiges Katz- und Maus-Spiel zwischen Kidnapper und Opfer könnte sich genau so abspielen. Meistens hat Andi die Zügel straff in der Hand, doch mehrfach gelingt es Clare beinahe, das Blatt zu wenden. So scheitert ihr erster Fluchtversuch nur knapp – dafür recht blutig mit erheblichen Verletzungen auf beiden Seiten.

 

Doppelleben mit verschiedenen Seiten

 

Hintergrund

 

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Beide Charaktere sind absolut schlüssig konstruiert. Max Riemelt ist ein Mann mit zwei Gesichtern in der Manier von Robert Louis Stevensons klassischer Novelle „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“: Vom netten, idealen Schwiegersohn wechselt er im Nu zum unberechenbaren Psychopathen.

 

Dabei stellt Riemelt sein Doppelleben völlig überzeugend dar: Einerseits tritt er als verständnisvoller Lehrer auf, der seinen Schülern freundschaftlich verbunden ist – andererseits als zwanghafter Entführer mit Realitätsverlust. Der in seinem Verhalten gleichfalls ganz verschiedene Seiten zeigt: Mal verhält er sich wie ein fürsorglicher liebender Partner, der sein Opfer umsorgt und bemuttert – im nächsten Moment geht er mit brutaler Gewalt gegen Clare vor.

 

Freiheitsdrang + Kontrollwahn

 

Ähnlich präzise veranschaulicht Teresa Palmer das emotionale Chaos, in das sie als Entführungs-Opfer gerät. Plötzlich ist sie nicht nur gefangen, sondern auch einem launischen Peiniger ausgeliefert –  im schlimmsten Fall für den Rest ihres Lebens. Im Wechselbad extremer Gefühle schwankt sie zwischen Verzweiflung, Aufbegehren, Widerstand und Resignation. Dabei entdeckt sie in sich aber auch eine ihr vorher nicht bewusste Stärke; sie gibt ihr die Kraft, sich ein ums andere Mal gegen ihr Schicksal zu stemmen.

 

Als Drehort hat die australische Regisseurin Berlin gewählt, weil sie im Geschehen eine Parabel auf die untergegangene DDR sieht: mit einer Diktatur, die ihre Bevölkerung systematisch entmündigte und unterdrückte. Das mag 28 Jahre nach dem Fall der Mauer etwas bemüht erscheinen. Auch ohne politische Deutung überzeugt dieser Film als prägnante Studie über den existentiellen Machtkampf zwischen Freiheitsdrang und Kontrollsucht.