
Am 7. Oktober 1989 wurde in der DDR der 40. Jahrestag ihrer Gründung gefeiert. Die Älteren unter uns erinnern sich: Es war eine gespenstische Veranstaltung. In Ostberlin nahm die Staats- und Parteiführung unter Erich Honecker die übliche NVA-Militärparade ab – und behandelte ihren Ehrengast Michail Gorbatschow, den ersten Mann ihrer Schutzmacht Sowjetunion, demonstrativ frostig. Obwohl seit Frühsommer Zehntausende aus der DDR flohen, und im Herbst ihre Mitbürger zu Hunderttausenden für Veränderungen demonstrierten.
Info
In Zeiten des abnehmenden Lichts
Regie: Matti Geschonneck,
101 Min., Deutschland 2017;
mit: Bruno Ganz, Hildegard Schmahl, Sylvester Groth
Deutscher Buchpreis 2011
Als kunstvoll verschränktes Geflecht aus Rück- und Vorblenden zwischen 1952 und 2001 – sowie sechs Schlaglichtern auf den Verlauf des 90. Geburtstags. An diesem Tag drängt sich im Wohnzimmer der Powileits alles zusammen, die Gründe für den Aufbau der DDR wie für ihr Scheitern; und alle treten sich gegenseitig auf die Füße. Für diesen brillanten Geschichtsroman als Familienporträt bekam der Autor zurecht 2011 den Deutschen Buchpreis; sein Werk hat nun Regisseur Matti Geschonneck kongenial verfilmt.
Offizieller Filmtrailer
Radikal verdichtete Roman-Vorlage
Dafür hat Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, lebende DEFA-Legende und als 86-Jähriger kaum jünger als der fiktive Jubilar, die Vorlage radikal verdichtet: Alles spielt sich an nur einem Tag ab. Doch die Vielfalt der Bezüge auf das halbe 20. Jahrhundert bleibt erhalten: im Reden und Handeln der Geburtstagsgäste, in ihren halblauten Bemerkungen und achtlosen Gesten.
Spricht etwa Kurt Umnitzer (Sylvester Groth) – ein Historiker der Arbeiterbewegung von dezent dissidentischer Denkungsart – mit seiner russischen Frau Irina Petrowna Deutsch, mit deren Mutter Nadjeshda Iwanowna aber Russisch, dann enthüllt sich darin ganz nebenbei eine komplexe deutsch-russische Nachkriegs-Biographie: Exil in Moskau, Lagerhaft in Sibirien, Rückkehr nach Ostdeutschland, linientreue Anpassung, professorale Hochschul-Routine – und kopfschüttelnde Resignation, weil das System unreformierbar scheint. Zumal sein eigener Sohn davor Reißaus nimmt.
Hobeln zum Aufbau des Sozialismus
Kurts Mutter Charlotte (Hildegard Schmahl) schlug die entgegengesetzte Richtung ein; sozial und geografisch. Der höheren Tochter boten der Arbeiter Wilhelm und seine KP eine chance, ihrem faden Großbürgerdasein zu entkommen – durch Flucht nach Mexiko. Dass sie ihren Gatten an Bildung und Tatkraft weit übertraf, nutzte ihr später in der DDR wenig: In deren Kulturelite war sie nur eine Randfigur, weil ihr der Stallgeruch Moskauer Exilanten fehlte. Worüber sie sich mit einem Wintergarten tröstet; ihr kleines Reich voller memorabilia aus dem fernen Mittelamerika.
Dafür hat ihr Mann Wilhelm keinen Sinn – wie für vieles, was nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 aufkam. Der frühere Komintern-Agent ist ein Parteikader alten Schlages. Er weiß genau, dass der Klassenfeind überall lauert; beim Kampf gegen ihn darf man nicht zimperlich sein. Wo beim Aufbau des Sozialismus gehobelt wird, da fallen eben Späne – und wenn der eigene Esstisch zusammenbricht, weil ihn Wilhelm mit Hammerschlägen traktiert.
Zwei identische „Leben für die Arbeiterklasse“
Hintergrund
Lesen Sie hier ein Interview mit dem Schauspieler Bruno Ganz über "In Zeiten des abnehmenden Lichts"
und hier eine Rezension des Films "Das Geständnis" – fesselndes Kammerspiel über die DDR-Justiz von + mit Bernd Michael Lade
und hier einen Bericht über den Film "Anderson" – informative Doku über den Stasi-Spitzel Sascha Anderson von Annekatrin Hendel
und hier einen Beitrag über den Film "Als wir träumten" – furioses Porträt der Jugend im Nachwende-Leipzig von Andreas Dresen nach einem Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase.
Wie das ganze Konglomerat aus KP-Kauderwelsch, Kleinbürger-Mief und Weltniveau-Ehrgeiz, das die späte DDR zum Absurdistan-Aquarium machte; seine Ingredienzen breitet Regisseur Geschonnek noch einmal voller Liebe zum Detail aus. Wie hoffnungslos diese Gesellschaft in einer Wiederholungsschleife gefangen war, zeigt eine kurze Szene am Anfang. Da legt Wilhelm den Gedenk-Zeitungsartikel zu seinem 90. Geburtstag in eine Zigarrenkiste. Dort liegt schon ein fast identischer Artikel zu seinen Ehren, mit derselben Überschrift: „Ein Leben für die Arbeiterklasse“ – erschienen 30 Jahre zuvor.
Auf Nazis eindreschen ist einfacher
Dabei driftet der Film nie in eine ostalgische Kuriositätenschau ab; weder in der Ausstattung noch beim Personal. Im Gegenteil: Dem Geist von Ruges Roman aufmerksam nachspürend, bündelt er wie unterm Brennglas die vielschichtigen und widersprüchlichen Biografien und Mentalitäten, welche die Einzigartigkeit der DDR ausmachten.
Ihr vermessener Anspruch, das „bessere Deutschland“ zu sein, wird im Augenblick des Dahinscheidens am kenntlichsten: nicht als Polit-Theorie, sondern im Streben und Scheitern ihrer Bewohner – ihre Wünsche und Enttäuschungen wirken bis heute nach. Das ist großes Kino zur Zeitgeschichte, das dem Publikum seine Herkunft nuanciert vor Augen führt. Was hierzulande leider selten vorkommt: Es ist ja viel einfacher, auf tote Nazis einzudreschen.