documenta 14

Rundgang durch die documenta-Halle

Miriam Cahn: koennteichsein (Detail), Öl auf Leinwand, 2015/6. Foto: ohe
Postfeministisch korrekte Porno-Zombies: In der documenta-Halle frönt Leiter Szymcyk seinem Spleen für Exotisches und Abseitiges aller Art. Der Weg durch diese musikalisch-ethnologische Kuriositäten-Kiste führt schnurstracks in die Vergangenheit.

Die Quadratur des Halbmonds: Seit der documenta 9 ist es noch keiner Nachfolger-Schau gelungen, den 1992 eigens dafür errichteten Bau sinnvoll zu füllen. Das liegt an seiner exzentrischen Form auf einem gekrümmten Handtuch-Grundstück zwischen Staatstheater und dem Abhang zum Barockpark Karlsaue. Von außen schließt die Glasfassade der documenta-Halle das Plateau des Friedrichsplatzes glänzend ab – innen ist sie ein verwinkeltes Labyrinth aus hohen Hallen und kleinen Kabinetten auf vier Ebenen.

 

Info

documenta 14

 

Teil 1:
08.04.2017 - 16.07.2017

täglich außer montags

11 bis 21 Uhr, donnerstags bis 23 Uhr

an 47 Standorten in Athen

 

Weitere Informationen

 

Teil 2:
10.06.2017 - 17.09.2017

täglich 10 bis 20 Uhr

an 35 Standorten in Kassel

 

Katalog ("Daybook") 25 €,
Essayband ("Reader") 35 €

 

Website zur documenta 14

 

Diese verwirrende Raumfolge hat noch kein documenta-Leiter schlüssig zu gliedern vermocht – auch Adam Szymczyk nicht. Er und sein team frönen eher ihren spleens und Vorlieben für angeblich übersehene und unterbewertete Künstler aller Dekaden und Disziplinen; so wird die Halle mehr denn je zur musikalisch-ethnologischen Kuriositäten-Kiste, in der hinter jeder Ecke seltsame Überraschungen warten.

 

Afropop + griechische Neue Musik

 

Es geht los mit exotischen Klängen. Am Eingang häufen Igo Diarra und La Medina aus Mali allerlei memorabilia zu Ali Farka Touré an: Platten-cover, Fotos von Konzerten und Preistrophäen, aber auch Original-Kostüme und Instrumente – alles, was das fan-Herz erfreut. Wieso gerade dieser afro pop star so ausgiebig gewürdigt wird, bleibt unerfindlich. Ebenso, warum eine Etage darüber vergilbte Partituren von Neuer Musik der 1960/70er Jahre ausliegen – mit oder ohne Klangbeispielen. Dass im „Listening Space“ vor allem Iannis Xenakis und andere hellenische Neutöner zu hören sind, dürfte am Gräkozentrismus des Wahl-Atheners Szymczyk liegen.

documenta 14: Impressionen der Ausstellung in der documenta-Halle


 

Indianer-Masken bereits 2011 präsentiert

 

Viel Aufmerksamkeit fanden anfangs die bemalten Holzmasken von Beau Dick: als Beispiele für die Kunstpraxis einer nichteuropäischen Kultur, in der Kunstwerke mehr als nur Deko- und Spekulations-Objekte sind. Wenn die Kwakwaka ‚wakw-Indianer sie für religiöse Rituale benötigen – etwa für das Begräbnis von Beau Dicks, der kurz vor documenta-Beginn starb –, dann werden sie an Kanadas Pazifikküste zurückgeschickt und in der Schau durch andere Artefakte ersetzt.

 

Das laute Presseecho für diese farbenfrohen und komplexen Skulpturen, in denen oft zwei oder drei Wesen miteinander verschmelzen, zeugt aber auch von hiesiger Ignoranz: Solche Masken und das ihnen zugrunde liegende Weltbild wurden bereits 2011 ausführlich in der Ausstellung „Die Macht des Schenkens“ in Dresden vorgestellt – nur eben ohne documenta-Weihen.

 

Neurotische Perspektive auf Körperlichkeit

 

Ähnliche déjà vu-Erlebnisse bieten Zeugnisse der Choreographie von Tanz-performances, die Anna Halprin im Kalifornien der 1960/70er Jahre veranstaltete. Darunter sind quietschbunt psychedelische Filzstift-„Partituren“ ebenso wie Szenenfotos von anmutig arrangierten Leibern. Sie verdeutlichen vor allem eines: wie prüde, unsinnlich und zwanghaft der Umgang mit Nacktheit seither wieder geworden ist.  Da gewährt diese vorgebliche Gegenwartskunst-Schau einen tröstlichen Rückblick auf bessere Zeiten.

 

Wenn es eines Nachweises bedürfte, wie rettungslos neurotisch die aktuelle Perspektive auf Körperlichkeit ist – Miriam Cahn liefert ihn. Die 68-jährige Schweizerin malt bevorzugt entblößte Figuren mit rot umränderten Geschlechtsteilen oder bluttriefenden Verstümmelungen; verursacht von Messern, Säbeln und anderen Waffen. In simpelster Machart, irgendwo zwischen bad painting und Aquarellieren als Kunsttherapie.

 

Postfeministische Helnwein-Nachfolgerin

 

Aus diesen Porno-Zombies im Psychiatrie-Nirwana lassen sich beliebige Traumata herauslesen: von sexual harassment über Vergewaltigung bis zu hardcore-Autoaggression. Quasi als postfeministisch akzeptable Variante der Kindesmisshandlungs-Schockmotive eines Gottfried Helnwein – mit dem kleinen Unterschied, dass der Österreicher sein photorealistisches Handwerk beherrscht.

 

Dass die Darstellung existentieller Probleme auch ansehnlicher ausfallen kann, zeigen zwei Beiträge im größten Saal der documenta-Halle. Der Senegalese El Hadji Sy ist mit einer Installation aus sechs freistehenden Gemälden vertreten, die im Kreis aufgestellt sind. Sie thematisieren traditionelle Berufsgruppen in seiner Heimat wie Viehzüchter und Fischer. Mit leuchtenden Farbkontrasten, abstrakt aufgelockerten Kompositionen und originellem Material-Einsatz – so markiert ein Seil die Silhouette eines Ertrunkenen – veranschaulicht dieses ensemble eindrucksvoll die heutige conditio humana senegalaise.

 

Zehn-Meter-Fries zur Sami-Geschichte

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier eine Besprechung der "documenta 14: Fridericianum" - Rundgang durch den Hauptstandort der Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die Macht des Schenkens" mit Ritual-Masken der Kwakwaka’wakw-Indianer an Kanadas Nordwestküste im Lipsiusbau, Dresden

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Gottfried Helnwein − Retrospektive" mit erlesener Elends-Pornographie vom bekanntesten Künstler Österreichs in der Albertina, Wien.

 

An der Wand gegenüber findet sich ein europäisches Gegenstück: Auf einem mehr als zehn Meter langen Stickbild hält Britta Marakatt-Labba aus Schweden die Geschichte und Lebensweise der Sami fest. Zwischen Moderne und Archaik: Das nordische Volk hütet seine Rentier-Herden mit Motorschlitten, doch mittendrin tauchen offenbar mythische Gestalten auf. Ohne Erläuterung bleibt der monumentale Fries aus Leinen und Faden aber hermetisch.

 

Unmittelbar verständlich sind dagegen zwei Bootsrümpfe, die der Mexikaner Guillermo Galindo aufgehängt hat: Sie stammen von geborstenen Schaluppen, mit denen Flüchtlinge auf dem Wasserweg unterwegs waren. Ihnen zum Gedenken spielt Galindo zuweilen Klagelieder auf zu einfachen Instrumenten umgebauten Trümmerteilen. Objets trouvés, die irgendwie mit Migranten-Leid zu tun haben, sind derzeit ja im vermeintlich politisch engagierten Kunstbetrieb allgegenwärtig.

 

Spirituelle Färbe-Pflanze

 

So aufwändig wie abseitig erscheint indes, womit Aboubakar Fofana aus Mali eine ganze Saalfront belegt: Auf dem Boden steht eine Batterie von Topfpflanzen, unter der Decke hängen Dutzende blauer Hemden. Seit der Erfindung chemischer Farben ist das althergebrachte Färben mit Indigo in Vergessenheit geraten.

 

Fofana will es unbedingt wiederbeleben, denn das aus Pflanzen gewonnene Indigo „verfügt über eine tiefe, spirituelle Bedeutung und setzt sich gegen die Vergänglichkeit restriktiver Denkweisen durch“. Ähnlich esoterisch klangen die Argumente mancher Bio-Bauern, bevor Supermarkt-Ketten chemiefreie Lebensmittel zum Millionen-Geschäft ausbauten: Diese documenta marschiert in jeder Hinsicht vorwärts in die Vergangenheit.