
Die totale Entgrenzung: Nichts von dem, was Adam Szymczyk als künstlerischer Leiter mit der documenta 14 anstellt, ist wirklich neu. Doch er treibt alles in zuvor ungekannte Extreme. Das verstört, reizt zum Widerspruch und sorgt damit für das Wichtigste: Aufsehen und Erregung auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Szymczyk mag so schweigsam und kontaktscheu sein, dass es an Soziophobie grenzt; der Widerhall seiner Entscheidungen dröhnt umso lauter.
Info
documenta 14
Teil 1:
08.04.2017 - 16.07.2017
täglich außer montags
11 bis 21 Uhr, donnerstags bis 23 Uhr
an 47 Standorten in Athen
Teil 2:
10.06.2017 - 17.09.2017
täglich 10 bis 20 Uhr
an 35 Standorten in Kassel
Katalog ("Daybook") 25 €,
Essayband ("Reader") 35 €
Teilungs-Vorspiel in Kabul
2012 deklarierte Leiterin Carolyne Christov-Bakargiev (CCB) zum zweiten Standort ihrer dOCUMENTA (13) die afghanische Hauptstadt Kabul – was niemanden aufregte. Vor Ort ließ sie lokale Künstler fortbilden, deren Arbeiten anschließend im ehemaligen Elisabeth-Hospital in Kassel zu sehen waren, und im dortigen Goethe-Institut eine kleine Ausstellung zusammenstellen. Nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit – allenfalls ein paar Offizielle und Katastrophen-Touristen dürften sie gesehen haben.
documenta 14: Impressionen der Ausstellung im Fridericianum
Bloß nicht konkret werden
Fünf Jahre später liegt der Fall anders. Nicht nur, weil Szymczyk sein Teilungskonzept konsequent umsetzt; in Athen werden ähnlich viele Künstler gezeigt wie in Kassel, etliche an beiden Orten. Sondern vor allem, weil er als Devise „Von Athen lernen“ verkündet: die prosperierende Provinzstadt soll sich an der stressgeplagten Metropole orientieren, das saturierte Kerneuropa an seiner krisengeschüttelten Peripherie – wie genau, lässt der Leiter wohlweislich offen. Die griffigste Parole verliert an Überzeugungskraft, sobald sie konkretisiert wird.
Auf dem Papier klingt Szymczyks Idee bestechend. Athen hat einen mythisch schillernden Ruf: einst Wiege von Demokratie und Philosophie, von Perikles, Platon und Aristoteles – heute schäbige Kapitale eines verarmten Landes, das unter Verschuldung und Flüchtlingszustrom leidet. Hier prallen viele Konflikte der Globalisierung krachend aufeinander. Dagegen war Kassel stets geruhsame Residenz- und später Beamtenstadt. Sie hat trotz bedeutender Kunstschätze kein eigenes kulturelles Profil entwickelt; ab 1955 wurde sie rein zufällig zum Standort der weltgrößten Ausstellung zeitgenössischer Kunst.
Kassel als neutrale Kulisse
Diese Mittelmäßigkeit hat Vorteile. In den 1970/80er Jahren wurde Kassel gern als Testgebiet zur Markteinführung neuer Produkte genutzt, weil es statistisch so nah am bundesdeutschen Durchschnitt lag. Für den Kunstbetrieb war und ist die Stadt eine erstklassige, da neutrale Kulisse: Sie bietet eine passable Infrastruktur, ansonsten stört sie nicht weiter. Universität und Kunsthochschule liefern Talente und billige Hilfskräfte, alle anderen halten sich raus.
Bis zur Jahrtausendwende war den meisten Einwohnern die Karawane komischer Kunst-Vögel, die alle fünf Jahre in die Stadt einfiel, völlig schnuppe; heutzutage interessiert sie am ehesten, an fast einer Million Ausstellungs-Besuchern mitzuverdienen. Damit ist Kassel für die documenta genauso ein idealer Austragungs-Ort wie Hannover für die weltgrößte Industriemesse.
Athener Schau geht in Alltags-Chaos unter
Anders in Athen: Der Versuch, dort auf Knopfdruck eine maßgebliche Kunstschau zu etablieren, darf als gescheitert gelten. Erstens passt die kulturelle Prägung nicht: Umzingelt von Zeugnissen antiker Größe, als deren Erben sie sich fühlen, haben Griechen eher wenig Verständnis für Modernes. An den klassischen Avantgarden nahmen sie kaum teil.
Zudem scheiterte jüngst ein Aufholversuch spektakulär: Das Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST) wurde zwar fertiggestellt, aber aus Geldmangel nicht in Betrieb genommen. Die derzeitige documenta-Bestückung besuchen vor allem ausländische Kulturtouristen zwischen ihren trips nach Venedig und zur Istanbul Biennale. Einheimische verirren sich kaum in die Schau; sie geht im Athener Alltags-Chaos praktisch unter. Was zur Hypothek ihres zweiten Teils in Kassel wird, der nun zwei Monate später eröffnet wird.
documenta 14: Impressionen der Ausstellung in der Documenta-Halle
Polono-hellenischer Nepotismus
Obwohl Leiter Szymczyk nach Kräften für Ressourcen-Transfer sorgt, finanziell und personell: Seine in Athen wohnende Frau, die Performerin Alexandra Bachzetsis, tritt an beiden Standorten im documenta-Programm auf. Kein Einzelfall: Die Gattin des belgischen Ko-Kurator Dieter Roelstraete, Monika Szewczyk, arbeitet ebenso im documenta-team; der Leiter der Ausstellungs-Abteilung, Christoph Platz, ist Lebenspartner von Pressesprecherin Henriette Gallus. Vetternwirtschaft, was heißt das?
Im rauen Kunstbetrieb ist man gewohnt, dass sich insider-Klüngel die Taschen füllen. Doch die Unverfrorenheit von Szymczyk et al. reißt eine bislang beachtete Schamgrenze ein – noch vor sechs Wochen verlor deshalb in Frankreich der gaullistische Kandidat François Fillon bei der Präsidentschaftswahl. Da liegt die politisch unkorrekte Frage nahe: Ist das nun eher griechische oder polnische Wirtschaft? Jedenfalls wird deutlich, dass der Leiter mit dem slogan „Von Athen lernen“ offenbar auch dortige Standards bei Begünstigung und Korruption im Sinn hat.
Drittklassige Abklatsche aus Athen
Er fördert aber auch hellenischen Kulturexport. Die seit dem Jahr 2000 angekaufte Sammlung, die im EMST-Depot schlummert, wird kurzerhand nach Kassel verfrachtet. So beherbergt die Kunsthalle Fridericianum, traditionell Mittelpunkt der documenta, nun einen Überblick über griechische Künstler seit etwa 1970. Als seien diese Vertreter einer Zehn-Millionen-Nation, die Modernität eher gering schätzt, so bedeutend, dass sie als Gradmesser für aktuelle trends der Weltkunst herhalten können. Jeder documenta-Leiter hat eigene Schwerpunkte, aber so extrem hat noch keiner buddies aus seiner Wahlheimat bevorzugt.
Da finden sich einzelne bemerkenswerte Arbeiten – doch der Rest veranschaulicht, warum Jannis Kounellis (1936-2017) als einziger griechischer Gegenwarts-Künstler von Weltrang gilt. Das Meiste ist schlicht zweit- bis drittklassig: unoriginelle Abklatsche von Einfällen, die früher anderswo besser umgesetzt worden sind. Derlei mag in Athen oder Thessaloniki patriotische Kunstfreunde erfreuen – auf der documenta hat es nichts zu suchen.
Viele Chauvinismen, ein Tenor
An vielen der 35 Ausstellungs-Orte im Stadtgebiet sind Griechen überrepräsentiert: weil Szymczyk in Athen leicht daran herankam oder orientalischen Gefälligkeitsregeln folgt? Dieser Gräkozentrismus wird in manchen Häusern durch andere Chauvinismen ergänzt: postkolonialen Revanchismus, Antifa-Moralismus oder Militanz von LGBT-Aktivisten. Mit stets demselben Tenor: Weiße alte Männer fügten ihnen bitteres Leid zu; dafür sollen sie bezahlen.