Wittenberg + Berlin

Luther und die Avantgarde + Der Luthereffekt

Maurizio Cattelan: Luther & The Avant Garde, 2017; Poster, Maße variabel. Foto: ohe
Wie man mit dem Schlagring reformiert: Eine beeindruckende Ausstellung in Wittenberg steckt Gegenwarts-Kunst ins Gefängnis – und veranschaulicht damit Luthers Vermächtnis. Der Martin-Gropius-Bau komprimiert überzeugend 500 Jahre Protestantismus.

Auf den ersten Blick erscheint eine Ausstellung über das Verhältnis der zeitgenössischen Kunst zu Luther abwegig. Einer seiner Glaubensgrundsätze lautete sola scriptura („nur die Schrift“): Auf den Wortlaut der Bibel kommt es an. Luther zählte er nicht zu den Bilderstürmern unter den Reformatoren, doch Bilder waren für ihn nur adiaphora: nützlich, um die Gläubigen zu belehren, aber nebensächlich.

 

Info

 

Luther + die Avantgarde: Zeitgenössische Kunst in Wittenberg, Berlin und Kassel

 

19.05.2017 - 01.11.2017

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

im Alten Gefängnis, Berliner Straße / Ecke Lucas-Cranach-Str., Wittenberg

 

Außenstellen:
dienstags bis samstags 11 - 18 Uhr in der St. Matthäus-Kirche, Berlin, und montags bis samstags 10 - 20 Uhr in der Karlskirche, Kassel

 

Katalog 33 €

 

Website zur Ausstellung

 

Der Luthereffekt:
500 Jahre Protestantismus in der Welt

 

12.04.2017 - 05.11.2017

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr

im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin

 

Katalog 29,90 €,
Kurzführer 8 €

 

Website zur Ausstellung

 

Da hält es die Gegenwart eher mit der Gegenreformation: Bilderfluten sollen die Betrachter überwältigen und begeistern. Wer da nicht leicht mithalten kann, wie die Kleinstadt Wittenberg, muss sich etwas einfallen lassen: Sie erklärt im Lutherjahr gleich die halbe Innenstadt zur „Weltausstellung Reformation“ mit sieben „Toren der Freiheit“. Größte Attraktion im „Torraum Kultur“ ist die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“; organisiert von Walter Smerling, dem umtriebigen Vorsitzenden der Bonner „Stiftung für Kunst und Kultur“.

 

Die Kunst geht in den Knast

 

Zwar hat diese Schau noch zwei kleine Ableger in Kirchen in Berlin und Kassel, wohin zur documenta 14 in diesem Sommer wohl mehr Kulturtouristen strömen werden, aber ihr Hauptstandort ist in der Lutherstadt. Genauer: In deren altem Gefängnis von 1906, das ab den 1980er Jahren von der Stadtverwaltung genutzt wurde und seit zehn Jahren leer steht; für diese Ausstellung wurde es notdürftig in Schuss gebracht. Die Kunst geht also in den Knast.

 

Der erweist sich als fabelhafter Schauplatz: Kahle lange Gänge auf vier Stockwerken vereiteln inszenatorische Mätzchen, enge Räume mit nackten Böden und vergitterten Fenstern zwingen zur Konzentration. Von ein paar Arbeiten im Außenraum abgesehen, gestaltet jeder Künstler eine Einzelzelle aus: Bei manchen beflügeln offenbar rigide äußere Zwänge die Inspiration – während andere umso blasser aussehen.

 

Routinesache für Kultur-Kardinäle

 

Letzteres gilt vor allem für Starkünstler, deren Popularität das Publikum anlocken dürfte: Diese Kardinäle des Kulturbetriebs behandeln ihre Knasterfahrung als Routinesache. Olafur Eliasson hängt eine seiner geläufigen Op Art-Diskokugel auf, Erwin Wurm wuchtet einen monströsen Bronze-Boxhandschuh in den Hof, Markus Lüpertz modelliert einen ungeschlachten Hünen, Isa Genzken stellt ihre bunt beschmierten Schaufensterpuppen auf, Jonathan Meese krakeelt herum und vermüllt seine Zelle: artists in prison business as usual.


Statements von Ko-Kuratorin Dan Xu + Impressionen der Ausstellung in Wittenberg


 

Jesus-casting im Vatikan

 

Bemerkenswerter sind Beiträge, die auf den genius loci eingehen: nicht unbedingt auf Luthers Person oder 500 Jahre Reformation, aber auf deren Anspruch und geistesgeschichtliche Bedeutung – und das Spannungsfeld mit der Wirklichkeit, das an diesem Ort spürbar wird. Die Gruppe „Robotlab“ lässt die gesamte Bibel von einem Industrie-Roboter in Schmucklettern abschreiben: was ebenso an die Kopisten-Knechtschaft der Mönche im Mittelalter denken lässt wie an die drohende Abschaffung menschlicher Autoren. Oder Kalligraphie als Amazon-Algorithmus.

 

Zugleich verweist es auf die Medien-Revolution um 1500, deren Nutznießer Luther war: Ohne Buchdruck, in Serie gefertigte Reformatoren-Porträts aus der Cranach-Werkstatt und illustrierte Flugblätter in Riesenauflagen hätte sich die neue Konfession nie durchsetzen können. Ein halbes Jahrtausend später entscheidet nach dem pictorial turn die Präsenz in audiovisuellen Massenmedien: Christian Jankowski lässt in seiner Video-Installation „Casting Jesus“ eine Vatikan-jury auswählen, welcher unter 13 Schauspielern am überzeugendsten den Messias mimt.

 

100 Isohaft-Bittsteller aus Brotteig

 

Luther war der shooting star seiner Zeit: ein einfacher, aber theologisch versierter Augustiner-Mönch schwang sich zum Wortführer auf. Auch in dieser Ausstellung machen Künstler aus der zweiten Reihe mit durchdacht und sensibel auf den Ort abgestimmten Arbeiten auf sich aufmerksam. Andrej Kuzkin aus Moskau baut seine Zelle zur Isolations-Haftanstalt aus: In rund 100 Beton-Nischen kniet je eine menschliche Figurine aus Brotteig in Bittstellung – so werden sie seit alters her von russischen Gefängnisinsassen zum Zeitvertreib geknetet.

 

Paloma Varga Weisz legt auf den Boden einer Duschzelle bäuchlings eine lebensgroße Holz-Marionette, die sich sachte und monoton bewegt: im Moment der Unterwerfung, Folter oder Vergewaltigung? Csilla Kudor hat eine aufwändige Wand-Installation zu „Sieben Todsünden“ angefertigt, die an Altar-Retabel gemahnt.

 

Am meisten beeindrucken Asiaten

 

Gotische Heilige und barocke Engel werden von einem Fries aus Wackelbildern eingerahmt: Je nach Blickwinkel sind weltliche Freuden oder höllische Folgen zu sehen. Elger Esser steuert Schwarzweiß-Fotografien von ungenutzten Kirchen und Klöstern in der französischen Provinz bei: Ihre spartanische Leere gemahnt an die Kargheit von Haftanstalten – was den Seelen der Gläubigen Flügel verleihen mag.

 

Am meisten beeindrucken aber die Exponate von asiatischen Künstlern; mit solchem Kulturtransfer hat Smerlings Stiftung Erfahrung. 2015 richtete sie den eindrucksvollen Ausstellungs-Zyklus „China 8“ aus: die laut eigenen Angaben „bislang größte museale Schau zeitgenössischer Kunst aus China“ mit 500 Werken von 120 Künstlern in acht NRW-Städten. Diese Expertise zahlt sich nun aus. Ein frühneuzeitlicher Kirchenkritiker im Abendland dürfte außereuropäische Kreative kalt lassen, sollte man meinen – doch weit gefehlt.