documenta 14

Annie Sprinkle

Annie Sprinkle bei ihrer "Ecosexual Walking Tour" am 17. Juni 2017 auf der documenta 14 in Kassel. Foto: ohe
Blümchensex mit der Pornoqueen: Mit freizügigen Aufklärungs-Shows wurde Annie Sprinkle in den 1990er Jahren zur Wortführerin eines lustbetonten Feminismus. Nun wirbt sie für die Kunst der Natur-Erotik – das könnte bei Greenpeace auf fruchtbaren Boden fallen.

Worlds collide: Annie Sprinkle auf der documenta? Die wohl tabuloseste Sex-Aufklärerin und lässigste Frohnatur mit Rotlicht-Vergangenheit auf einer verklemmt kontrollwütigen, lustfeindlichen und spaßfreien Groß-Ausstellung, die diese documenta 14 nun einmal ist? Kein Druckfehler: Annie Sprinkle und ihre Ehefrau Elizabeth Stephens, Kunst-Professorin an der kalifornischen University of Santa Cruz, sind offizielle Teilnehmerinnen der documenta.

 

Info

 

documenta 14

 

10.06.2017 - 17.09.2017

täglich 10 bis 20 Uhr

an 35 Standorten in Kassel

 

Katalog ("Daybook") 25 €,
Essayband ("Reader") 35 €

 

Website zur documenta 14

 

Das hätte sich Sprinkle wohl nie träumen lassen. Sie kam 1973 als 19-jährige Ellen F. Steinberg nach New York; dort arbeitete sie 20 Jahre lang als Prostituierte und in der Porno-Branche. Als Anfang der 1980er Jahre feministische Kreise darüber stritten, ob Pornographie zur Unterdrückung von Frauen beitrage, engagierte Sprinkle sich im Lager der sex-positiven Feministinnen. Später zog sie sich aus der Sex-Industrie zurück und trat stattdessen als unabhängige Sexpertin auf.

 

Deep Inside Annie Sprinkle

 

Beinahe berühmt wurde sie Ende der 1990er Jahre, als sie jahrelang in Metropolen weltweit mit Aufklärungs-shows gastierte: einer launigen Mischung aus Diavortrag, Empfehlungen fürs Liebesleben, Vorführung von erotischer Tantra-Massage und live show-Elementen. Spektakuläre Höhepunkte waren Einblicke Deep Inside Annie Sprinkle: Das Publikum durfte durchs Spekulum in ihre Vagina hineinsehen – womit sie die Mystifizierung des Organs nonchalant ad absurdum führte. Daran erinnert in der Neuen Galerie eine Spekulum-Installation mit damaligen Aufnahmen.

Impressionen der Performance "Ecosexual Walking Tour" am 17.06.2017


 

Neun Hochzeiten mit Gestirnen + Elementen

 

Transgender-Kurator Paul B. Preciado widmet ihrem Lebenswerk ein ganzes Kabinett: zwar achtlos zusammengestellt und arrangiert, aber immerhin. An Fotos und Magazinen aus den 1970/80er Jahren fallen nicht nur verblasste Farben und veraltetes layout auf; sie wirken auch natürlicher, oft fast verspielt. Als sei es trotz knallharter Profitinteressen in der Branche damals doch lockerer und menschlicher zugegangen als beim heutigen Darsteller-Verschleiß in normierter Hochglanz-Optik. Zumal Sprinkle schon früh mit nackten Tatsachen zugleich libertäre Botschaften verbreitete.

 

Nach ihrer Eheschließung mit Stephens 2007 propagierten beide eine „Ökosex-Bewegung“, deren bekannteste Vertreter sie selbst sein dürften: um Umweltschutz „more sexy, fun and diverse“ zu machen. Seither haben sie neun  – angeblich hinduistisch inspirierte – Hochzeits-Zeremonien veranstaltet; sie vermählten sich einmal jährlich von Kanada bis Österreich symbolisch mit den Gestirnen und Elementen. In der Schau zeigt ein Video-Monitor ausgelassen karnevaleskes Treiben ihres Gefolges – samt Wälzen in Mutterboden und Streicheleinheiten mit Schneebällen.

 

Erinnerst Du Dich an Empfindungen?

 

Das schreit geradezu nach physischer Präsenz. Zum documenta-Auftakt bot das Paar zweistündige „Ecosexual Walking Tours“ an, die enormen Anklang fanden – so viel Zulauf hätten sie noch nie gehabt, freuten sich Sprinkle und Stephens. Die outdoor walking distance mit sieben Stationen vom Fridericianum bis in die Karlsaue blieb überschaubar; doch sie reichte aus, damit das Duo das ganze Spektrum seiner Ökosex-Weltanschauung ausbreiten konnte. Was überraschend unpeinlich ausfiel: keine Spur von wolkiger Esoterik oder muffigen Müslifresser-Maximen.

 

Ihre Grundidee ist einfach. Jeder kennt und liebt bestimmte Empfindungen, die ihm Naturerscheinungen bereiten: sei es kitzelnder Fahrtwind auf der Haut, schäumende Meeresbrandung an den Zehen oder seifiger Ton zwischen den Fingern beim Töpfern und vieles mehr. Die Baumarkt-Kette „Hornbach“ produzierte jüngst einen Werbe-spot, in dem ein bärtiger Männerkopf genießerisch über Rasen gleitet – dazu wird die in der Digital-Ära sehr berechtigte Frage eingeblendet: „Erinnerst Du Dich?“ Genau das meinen Sprinkle und Stephens.

 

25 Ways to Make Love to the Earth

 

Sie spinnen den Gedanken weiter, indem sie allen Elementen den Status von Subjekten zusprechen, in die man sich verlieben kann. Beide werden nicht müde, solche Leidenschaften der Aquaphilie, Terraphilie, Pyrophilie und Aerophilie wortreich zu beschreiben und zu preisen. Akademiker könnten einwenden, dass sie damit – nach der Entthronung aller Götter und dem Ende aller Ideologien – wieder zu einer Art archaischer Naturverehrung zurückkehren, mit der einst die Geistesgeschichte vor Äonen begann.

 

Doch solche Fragen dürften die beiden Ökosex-Prophetinnen kaum interessieren. Als pragmatische US-Amerikanerinnen geben sie lieber praktische Ratschläge, um mit dem Element eigener Zuneigung glücklich zu werden. Beispielsweise „25 Ways to Make Love to the Earth“, indem man etwa Erde mit den Füßen massiert. Oder schlüpfrig nasse Spiele mit Brunnen, Fontänen und anderen Wasserspendern. Oder Eintauchen in die Sphäre der Gräser und Blüten, um die peep show ihrer Geschlechtsorgane zu bewundern. Ebenso empfiehlt sich, Bäume zu umarmen und die Stirn anzulegen – vielleicht haben sie etwas zu sagen.

 

Alles kann libidinös besetzt werden

 

Hintergrund

 

Offizielle Website von
Annie Sprinkle

 

Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier eine Besprechung des Films "Violently Happy" – eindrucksvolle Doku über SM-Erotik, Tanz + Körpererfahrungen in der Berliner "Schwelle 7" von Paola Calvo

 

und hier einen Bericht über den Film "Sexarbeiterin" – anschauliches Doku-Porträt einer Erotik-Masseurin von Sobo Swobodnik

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "I killed my dinner with karate" – körperbetonte Tanz-Fotografie von Franziska Strauss in der Neuen Sächsischen Galerie, Chemnitz.

 

Das könnte schlicht albern wirken, würde es nicht mit dem charme von ironischem vaudeville vorgetragen. Die Damen treten kurz berockt auf: Stephens im Kampflesben-look mit Rocker-Kutte, Sprinkle im Lack-Fetisch-baby doll outfit – trotz ihrer mütterlichen Ausstrahlung mit 64 Jahren lauschen alle Schaulustige aufmerksam ihren Liebestipps. Um sie herum springen acht AssistentInnen in schrägen trash-Kostümen aus der heimischen Off- und performance-Szene: Dafür, dass sie erst vor Ort rekrutiert wurden und wenig geprobt haben, agieren sie erstaunlich harmonisch.

 

Because love is all you need: Hat das Paar mit seinem Ökosex-Ansatz nicht völlig Recht? Einerseits kaprizieren sich zahllose Menschen auf irgendwelche Objekte mit einer Energie, die von erotischer Hingabe kaum zu unterscheiden ist. Alles kann libidinös besetzt werden: Es ist sicher besser, da unentfremdeter, dafür natürliche Phänomene anstatt künstlicher Dinge auszuwählen. Auf Dauern macht Gärtnern gewiss glücklicher als egoshooter online games.

 

Liebe zur Natur im Wortsinne

 

Andererseits droht der Umweltschutz-Gedanke unter Abstraktion und Bürokratie begraben zu werden – weil hochkomplexe Industriegesellschaften nicht anders können. Was als grassroots-Bewegung von Naturfreunden anfing, ist zur monströsen Verhandlungsmasse bei ausufernden Marathon-Konferenzen geworden. Das reicht aber nicht: Um Umweltschäden einzudämmen und die Biosphäre Erde zu retten, müssen daran möglichst viele Menschen aktiv mitwirken. Das geht am ehesten mit Liebe zur Natur im Wortsinne.

 

Wer sie und sich von Sprinkle und Stephens stimulieren lassen will, hat dazu eine weitere Gelegenheit: Beide werden am 6. September nochmals auf der documenta auftreten – unter dem eindeutigen Motto „Water Makes Us Wet“.