Christopher Nolan

Dunkirk

Tommy (Fionn Whitehead) am Strand von Dünkirchen. Foto: © 2017 Warner Bros. Pictures
(Kinostart: 27.7.) Wie man 150 Millionen Dollar im Ärmelkanal versenkt: Seinen Mammut-Kriegsfilm über die Evakuierung der britischen Armee 1940 in Dünkirchen inszeniert Regisseur Christopher Nolan als hektische Materialschlacht mit klebrigem Pathos.

Stell‘ Dir vor, es ist Krieg, und alle laufen weg: Die neuntägige Schlacht von Dünkirchen Anfang Juni 1940 war eigentlich eine gigantische Fluchtbewegung. Von der Wehrmacht in der nördlichsten französischen Stadt eingekesselt, gelang es der britischen Armee, mehr als 330.000 ihrer Soldaten über den Ärmelkanal in ihre Heimat zu transportieren. Wären sie in deutsche Gefangenschaft geraten, hätte das Vereinigte Königreich vermutlich rasch kapitulieren müssen – wie die heutige Welt dann aussähe, mag man sich kaum ausmalen.

 

Info

 

Dunkirk

 

Regie: Christopher Nolan,

106 Min., Großbritannien/ Frankreich 2017;

mit: Tom Hardy, Fionn Whitehead, Kenneth Branagh

 

Engl. Website zum Film

 

Dünkirchen zählt also zu den Schlüssel-Situationen des Zweiten Weltkriegs. Warum, setzt Regisseur Christopher Nolan als bekannt voraus: „Wie die meisten Briten bin ich mit der mythischen story dieser Evakuierung aufgewachsen; sie war ein Sieg am Rande der Niederlage“, sagt er: „Sie ist ein gewaltiger Teil unserer Kultur und steckt uns in den Knochen“. Genau so sieht sein 150 Millionen US-Dollar teurer Monumentalfilm auch aus: vaterländische Erbauung, die auf die Eingeweide zielt.

 

Drei Mal Ameisenperspektive

 

Erzählt aus der Ameisenperspektive in drei verschiedenen Blickwinkeln: Soeben ist der einfache Soldat Tommy (Fionn Whitehead) noch deutschen Heckenschützen am Stadtrand von Dünkirchen entkommen – nun lungert er mit Zehntausenden von Leidensgenossen am breiten Strand herum. Alle warten verzweifelt und meist wortlos darauf, einen Platz auf einem der rettenden Boote zu ergattern.

Offizieller Filmtrailer


 

Tollkühne Kerle in fliegenden Kisten

 

Die meisten sind klein; größere Kriegsschiffe können das flache Ufer nicht anlaufen. Einen dieser Kutter steuert Mr. Dawson (Mark Rylance) mit seinen Söhnen, um ihre patriotische Pflicht zu erfüllen; en passant fischen sie noch Jagdflieger der Royal Air Force (RAF) aus dem Wasser, deren Maschinen abgeschossen wurden oder keinen Sprit mehr hatten.

 

Das kann Farrier (Tom Hardy) nicht passieren: Der Teufelskerl im cockpit holt mit seiner Bord-MG deutsche Flugzeuge im Dutzend billiger vom Himmel – das dürfen die Zuschauer ausgiebig wie in einem Flugsimulator bewundern. Was er dabei mit seinem Piloten-Kumpel Collins (Jack Lowden) über Funk so bespricht, geht meist in atmosphärischen Störgeräuschen unter.

 

Statisten-Heer als Kanonenfutter

 

Der Rest ist ein Fest der Pyrotechnik: Die deutsche Luftwaffe fliegt eine Angriffswelle nach der anderen. Ihre Bomben pflügen den Sand um und mähen Soldaten en gros nieder; Schiffe kentern und sinken reihenweise; überall brennt es, dazu gellen die Hilfeschreie Ertrinkender. Ständige Szenenwechsel und hektische Schnitte verunmöglichen jede emotionale Beziehung zu den Protagonisten; der Film reduziert seine Heerscharen von Statisten buchstäblich auf Kanonenfutter.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films  "Churchill" – brillantes Biopic über Skrupel des britischen Premiers vor der Normandie-Invasion 1944 von Jonathan Teplitzky

 

und hier eine Besprechung des Films "Unter dem Sand - Das Versprechen der Freiheit" – beeindruckendes Drama über deutsche Kriegsgefangene als Minenräumer in Dänemark 1945 von Martin Zandvliet

 

und hier einen Bericht über den Film "Diplomatie" – virtuoses Kammerspiel über die Rettung von Paris im Zweiten Weltkrieg von Volker Schlöndorff

 

und hier einen Bericht über den Film "Interstellar" – visuell überwältigendes SciFi-Epos in fünf Dimensionen von Christopher Nolan.

 

Darüber, wie sie in diese fatale Lage kamen, erfährt man schlicht nichts. Ebenso wenig, wie diese riesige Evakuierungs-Aktion überhaupt möglich wurde. Dass die Wehrmacht auf Hitlers Befehl am 24. Mai den Vormarsch ihrer Panzer anhielt und dadurch den Briten Zeit gab, einen Verteidigungsring aufzubauen, nuschelt Commander Bolton (Kenneth Branagh) in einem Halbsatz weg. Wozu historische Genauigkeit? Auf die Schauwerte kommt es an!

 

Innovativ wie Mosfilm-Materialschlacht

 

Damit hat Regisseur Nolan noch nie gegeizt – doch bislang stellte er sie immer in den Dienst einer originellen Konstruktion. Ob in „Memento“ (2000) über Gedächtnisverlust, „Prestige“ (2006) über Illusionskünstler, „Inception“ (2010) über das Abtauchen ins Unterbewusste oder „Interstellar“ (2014) über Schwarze Löcher: Stets eroberte er thematisch neues terrain und erwarb sich den Ruf, einer der kreativsten Köpfe im derzeitigen mainstream-Kino zu sein. Dagegen ist „Dunkirk“ inhaltlich so innovativ wie eine spätstalinistische Mosfilm-Materialschlacht über Stalingrad – inklusive deren klebrigem Helden-Pathos zum Schluss.

 

Offenbar trifft Nolan mit diesem Retro-Rüstungsrummel in der angelsächsischen Welt einen Nerv: Nach nur einer Woche Laufzeit hat „Dunkirk“ zwei Drittel seiner Produktionskosten schon wieder eingespielt, davon die Hälfte in den USA. Das lässt befürchten, dass demnächst weitere CGI-Spektakel über die blutigsten Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs produziert werden: Es gibt ansonsten keine Siege mehr zu bejubeln.