
Wie kann ein junger, gebildeter Mann hochadliger Abstammung, der sich für russische Literatur begeistert, gleichzeitig glühender Hitler-Anhänger sein und vom „deutschen Paradies“ träumen? Warum kollaboriert ein französischer bonvivant mit den Nazi-Besatzern? Warum versteckt eine Exil-Russin, die in Paris als „Vogue“-Redakteurin arbeitet, zwei jüdische Kinder und riskiert damit ihr Leben?
Info
Paradies
Regie: Andrej Kontschalowski,
131 Min., Russland/ Deutschland 2016;
mit: Julia Vysotskaya, Christian Clauss, Philippe Duquesne
Verhör-Monologe oder Beichten?
Im Jahr 1944 angesiedelt, erzählt Kontschalowskis Film von den Verstrickungen zwischen der Russin Olga (Julia Vysotskaya), dem Franzosen Jules (Philippe Duquesne) und dem Deutschen Helmut (Christian Clauß) in bestechend komponierten Schwarzweiß-Bildern. Sie zeigen kaum äußere Gräuel des Krieges, sondern seine Verheerungen in der menschlichen Seele. Dafür unterbricht der Regisseur die Handlung öfter durch Monologe seiner Hauptfiguren. Am kahlen Tisch vor grauer Wand legen sie Rechenschaft über ihr Leben ab. Sind das Verhöre – oder Beichten vor höheren Mächten?
Offizieller Filmtrailer
Leidensweg einer Märtyrerin
Der Film beginnt in Frankreich: Nach Olgas Verhaftung entscheidet der Polizeibeamte Jules über ihr Schicksal. Gegen erotische Gefälligkeiten will er ihr Los erleichtern. Bevor es dazu kommt, wird Jules von résistance-Kämpfern erschossen – und Olga in ein namenloses KZ in Osteuropa deportiert. Dortiger Alltag wird dokumentarisch nüchtern gezeigt: die Brutalität der Wachmannschaften und die Rohheit der Häftlinge, die auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Zufälligerweise trifft Olga im Lager die beiden jüdischen Kinder wieder, wegen derer sie verhaftet worden ist.
Die Leidensgeschichte der Widerstands-Märtyrerin Olga, von Julia Vysotskya bravourös gespielt, und ihr selbstloses Opfer ziehen sich als roter Faden durch den Film. Nicht zufällig ist die einzige positive Figur eine russische Frau: Das spiegelt wider, wie man in Russland bis heute den „Großen Vaterländischen Krieg“ sieht. Alljährlich wird am 9. Mai aufwändig der „Tag des Sieges“ über den Nationalsozialismus gefeiert; dann herrscht Volksfest-Stimmung.
Slawist mit Erschießungs-Lizenz
Allerdings fokussiert Regisseur Kontschalowski vor allem auf den deutschen SS-Offizier Helmut. Ihm gibt Himmler persönlich den Auftrag, im Lager die Wirtschaftsweise der Leitung zu kontrollieren; sollte er auf Unterschlagung oder Korruption stoßen, wäre das mit Erschießung zu ahnden. Im KZ trifft der Adelsspross nicht nur auf den brutalen Kommandanten Krause (mit brachialer Präsenz: Peter Kurth) und einen desillusionierten Ex-Kommilitonen, sondern zu seiner großen Überraschung auch auf seine unerfüllte Liebe: Olga lernte er einst während eines Vorkriegs-Urlaubs in Italien kennen.
Hintergrund
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Ins russisch-orthodoxe Paradies
Während sich die Konflikte zwischen den Akteuren zuspitzen, scheut Regisseur Kontschalowski nicht vor metaphysischen Einschüben zurück; sie brechen das Quasi-Dokumentarische des Films immer wieder auf. So sieht Helmut im Wald schemenhafte Geister von Ermordeten zwischen den Bäumen – später scheint beim Treffen des SS-Manns mit Himmler gleichsam der Geist des Führers im Raum präsent.
Nachdem er die Idee der NS-Propaganda vom „deutschen Paradies auf Erden“ mit seltener Konsequenz ausformuliert hat, stellt der Regisseur diesem Albtraum am Ende das himmlische Paradies im christlichen Glauben gegenüber – genauer: seiner spezifisch russisch-orthodoxen Variante. Sie findet sich schon in vielen Werken von Dostojewski und Tolstoi: Das Heil liegt nicht im irdischen Jammertal, Erlösung gibt es nur im Jenseits.
Eine Weltsicht, die vom heutigen Kreml aus nahe liegenden Gründen wieder sehr gefördert wird. Daran schließt Kontschalowski an, aber auf sehr eigenwillige Art: Sein Film schert sich nicht um geläufige Konventionen des Historienkinos. Gerade dadurch lässt er die Zuschauer aufgewühlt zurück.