Sun Ra

Space is the Place

Sun Ra als Bar-Pianist. Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 6.7.) Schöner tanzen auf dem Saturn: 1972 drehte Jazz-Exzentriker Sun Ra einen Science-Fiction-Film über die Auswanderung von US-Schwarzen ins All. Nun kommt sein psychedelisches Meisterwerk des Afrofuturismus in digitaler Fassung wieder ins Kino.

Die Geschichte des Jazz ist reich an exzentrischen Gestalten und Genies. Unter all diesen Ausnahmekünstlern ist aber Sun Ra selbst eine Ausnahme. Schon als Bar-Pianist in heimatlichen Birmingham, Alabama, erfand Herman „Sonny“ Blount (1914-1993), von seiner rassistischen Umwelt entfremdet, eine eigene Identität. Demnach wurde Sun Ra auf dem Planeten Saturn geboren und kam auf die Erde, um mit kosmischer Musik die Menschen wieder in Harmonie zu bringen.

 

Info

 

Space is the Place

 

Regie: John Coney,

81 Min., USA 1974;

mit: Sun Ra, Raymond Johnson, Christopher Brooks

 

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Als Medium wählte er sein „Arkestra“: einen verschworenen Haufen von Musikern, die sich einem Lebensrhythmus aus Askese, unablässigem Proben und mageren Gagen unterwarfen. Sie verinnerlichten seine Musik derart, dass das Arkestra heute, fast ein Vierteljahrhundert nach Blounts Tod, immer noch auf tour ist.

 

Offenes musikalisches System

 

Sun Ras Musik ist ein nach allen Seiten offenes System, das stets absorbierte, was im Kosmos des Arkestra vorging: big band jazz der 1940er Jahre, den auf mehrstimmigen Arrangements basierenden doo wop-Gesang, sentimentale Disney-Filmmelodien, freie Improvisation, Afrozentrismus, Astrologie und Ägyptologie und nicht zuletzt die Möglichkeiten der elektronischen Klangsynthese. So verfügte Blount als einer der ersten Jazzer über eine Auswahl von Synthesizern und Elektro-Orgeln. Sie erinnerten Zeitgenossen an die Armaturen eines Raumschiffs und gaben seinem cosmic jazz jene Klangfacette, die vor allem in eine Richtung deutete: outer space.

Offizieller Filmtrailer


Bar-Pianist begegnet Mephisto

Schon in den 1950er Jahren, also lange vor der ersten Mondlandung, hatte Sun Ra den Weltraum als positive Utopie erschlossen. Während die US-Bürgerrechtsbewegung zwischen den Polen Integration und Segregation schwankte, eröffnete er für Afroamerikaner metaphorisch einen dritten Weg: „Space is the Place“. Der gleichnamige Film, 1972 in Kalifornien entstanden, wird nun in digitalisierter Fassung in seiner ganzen 35-Millimeter-Pracht wiederveröffentlicht.

 

Er versucht, Sun Ras Weltbild in Bildern zu erzählen: In einem Chicagoer Nachtclub begegnet der Bar-Pianist Sonny Ray seiner Nemesis, dem mephistophelischen „Overseer“. Der repräsentiert mit seinem gellenden Lachen alles, was Sun Ra verneint: Die Selbstzerstörung der schwarzen community durch Geldgier, Sex, Drogen und miese Musik. Nachdem Sonny den Club mit einem Tornado aus kosmischen Harmonien leergefegt hat, kämpfen die Kontrahenten in einem Kartenspiel um die soul of black folk. Es findet in den 1970er Jahren seinen Höhepunkt: Als Sun Ra ist Sonny Ray nach längerer Abwesenheit mit einem Raumschiff auf die Erde zurückgekehrt, um seine Leute in die Freiheit eines fernen Planeten mitzunehmen.

 

Wie Moses ins gelobte Land

 

Er eröffnet ein Arbeitsamt für ausreisewillige Erdlinge und schließt einen heiklen Vertrag für ein großes Konzert in Oakland ab. Doch da Sun Ras Fans schon den Ausverkauf wittern, triumphiert der „Overseer“. Dazu kommt, dass weiße NASA-Wissenschaftler den bandleader kurz vor dem Auftritt entführen, um ihm die Geheimnisse seiner Antriebsaggregate abzuluchsen. Wird Sun Ra es gelingen, seine Leute, wie einst Moses, aus der mentalen Sklaverei ins gelobte Land in den Sternen zu führen?  

 

Pate bei diesem low budget-Ideenfeuerwerk stand die underground-Ästhetik jener Jahre: Die Effekte, Raum- und Zeitsprünge sowie popkulturellen Codes reiten mit auf der Welle eines psychedelisch-experimentellen Kinos etwa der Beatles, der Regisseure Alejandro Jodorowsky und Kenneth Anger; selbst die Mutter des Avantgarde-Films, Maya Deren (1917-1961), wird zitiert. Zudem enthält das eklektische, von Sun Ra mitgeschriebene Drehbuch auch smarte Straßenjungs, fiese Zuhälter und ein repräsentatives Nachbarschaftszentrum, in dem Malcolm X und die Black Panther verehrt werden.

 

Vorbild für „Star Wars“-Ende

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Born to be Blue" – brillantes Biopic über die Cool-Jazz-Legende Chet Baker von Robert Budreau mit Ethan Hawke

 

und hier eine Besprechung des Films "Belladonna of Sadness" – einzigartiger psychedelischer Animationsfilm von 1973 aus Japan von Eiichi Yamamoto

 

und hier einen Bericht über den Film "Station to Station" – Episoden-Doku des Künstlers Doug Aitken über eine US-Zugreise mit einer Marching-Band-Version von Sun Ras "Space is the Place"

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Black Power Mixtape 1967 - 1975" – brillante Doku über die US-Bürgerrechtsbewegung von Göran Hugo Olsson.

 

In diesem Zeitgeist-potpourri haben auch zwei Mädels, die sich ausziehen und verprügeln lassen, ihren Platz. In Frauenfragen hinkte der männerbündlerische Sun Ra beispielsweise den Machern von „Star Trek“ ziemlich hinterher. Doch mehr als einmal erweist sich der Film als seiner Zeit weit voraus; etwa bei den Spezialeffekten für Ras Raumschiff, einem ko(s)mischen Bastard aus Banane und Sonnenbrille. Überdies scheint die Schlusssequenz, in der der blaue Planet recht buchstäblich wie eine reife Frucht zerreißt, die finale Explosion des Todessterns im SciFi-Klassiker „Star Wars“ (1977) von George Lucas vorwegzunehmen.

 

Dazu kommt jede Menge lakonischer Humor, etwa bei den Dialogen in Sun Ras interplanetarischer Zeitarbeits-Agentur oder den Witzen der Erdlinge über seine Schuhe – NASA-nerds foltern den Pianisten sogar mit Südstaaten-Marschmusik. Zu diesem Zeitpunkt sieht der Schauspieler Sun Ra allerdings schon so aus, als würde ihm die ganze Filmerei schwer auf die Nerven gehen.

 

Popkulturelle Zeichenmaschine

 

Heute, da dieser Film 43 Jahre nach seiner Premiere seine Wiederauferstehung feiert, ist Sun Ra längst zu einer popkulturellen Zeichenmaschine geworden. Sein Mythos liegt begraben unter zahllosen Interpretationen und Illusionen seiner fans, Epigonen, Biographen und all jenen, die Sun Ras Musik vor allem für den Inbegriff des Fiep und Tröt halten; sie wollen ihn am liebsten als eines dieser „verrückten Genies“ aus dem Weg loben.

 

Das beste Gegenmittel dagegen ist womöglich ein Konzert des Original-Arkestras, das aus Anlass der Wiederaufführung in Europa gastiert; es wird mittlerweile vom 93-jährigen Tenorsaxofonisten Marshall Allen geleitet. Oder einfach der Film selbst: „Space Is The Place“ eignet sich bestens dazu, den Mythos wieder vom Kopf auf die Füße in den coolen Schuhen zu stellen.