
Auf den ersten Blick wirken die Filme der britischen Regisseurin und Autorin Sally Potter sehr unterschiedlich. „Orlando“ (1992), ihr wohl bekanntestes Werk, war die Verfilmung eines Romans von Virginia Woolf, der als nicht verfilmbar galt: über die Probleme eines Mannes, der sich über Nacht in eine Frau verwandelt. Im autobiographisch geprägten „The Tango Lesson“ (1997) übernahm die als Tänzerin und Choreografin ausgebildete Regisseurin selbst die Hauptrolle. Ihr vorletzter Film „Ginger und Rosa“ (2012) blickte als coming-of-age-Drama eines teenagers auf die linksliberale bohème im England der frühen 1960er Jahre.
Info
The Party
Regie: Sally Potter,
71 Min., Großbritannien 2017;
mit: Patricia Clarkson, Kristin Scott Thomas, Bruno Ganz, Timothy Spall
Blick in den Pistolenlauf
Dass etwas nicht stimmt, daraus macht Potter in ihrer satirischen farce von Anfang an keinen Hehl. Gleich in der ersten Einstellung öffnet eine recht derangiert aussehende Frau mittleren Alters die Haustür; wer auch immer da gerade die Klingel gedrückt hat – er blickt direkt in die Mündung einer Pistole. Wie es dazu kommen konnte, erzählt der in kontrastreichem Schwarzweiß gedrehte Film als Rückblende in einer Art Kammerspiel-Salonkomödie: mit wenigen Schauplätzen in und rund um das Einfamilienhaus sowie einer überschaubaren Zahl von Figuren.
Offizieller Filmtrailer
Die Feier beginnt
Die Frau mit der Pistole ist Janet (Kristin Scott Thomas); sie wurde gerade zur Gesundheitsministerin im Schattenkabinett der Oppositionspartei ernannt. Jahre harter Arbeit scheinen sich nun bezahlt zu machen; bald kann sie wirklich etwas bewegen. Das muss gefeiert werden! Sie gibt eine kleine party für einige Freunde, die nach und nach eintrudeln.
Den Anfang macht die sarkastische April (Patricia Clarkson) mit ihrem esoterisch angehauchten deutschen Mann Gottfried (Bruno Ganz). Gefolgt von Martha, einer lesbischen Professorin für gender studies; ihre Partnerin Jinny ist Spitzenköchin und erwartet nach einer Hormonbehandlung nun Drillinge. Dazu kommt investment banker Tom, der Gatte von Janets engster Mitarbeiterin Marianne; sie will später noch vorbeischauen.
Programm-Musik + Koks im Bad
Gar nicht in Feierlaune ist Janets schweigsamer Ehemann Bill (Timothy Spall). Er scheint deprimiert und schon einigermaßen betrunken vom guten Rotwein; als erstes legt er eine progammatische blues-Platte auf. „I’m a man“ tönt es da aus den Lautsprechern – und die Vermutung liegt nahe, dass dieser Umstand in seinem Leben bislang nicht so richtig gewürdigt wurde.
Ebenso wenig gut gelaunt kommt der hektische Tom daher, den eine Handkamera alsbald ins Bad begleitet. Dort zieht er sich schnell noch eine Linie Koks durch die Nase und spielt mit eben jener Pistole, die später in Janets Hände geraten wird.
Kartenhaus bricht zusammen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ginger & Rosa" – Coming-of-Age-Drama über Bohemien-Jugend in London 1962 von Sally Potter
und hier eine Besprechung des Films "The Riot Club" – Sozialstudie über einen snobistischen Studenten-Club in Oxford von Lone Scherfig
und hier einen Beitrag über den Film "Cairo Time" – exotischer Ferienflirt in Ägypten von Ruba Nadda mit Patricia Clarkson
und hier einen Bericht über den Film "Mr. Turner - Meister des Lichts" – brillantes Biopic mit Timothy Spall als britischem Proto-Impressionisten William Turner von Mike Leigh.
In jeder neuen Gesprächssituation – ob im Flur, Badezimmer oder Garten – zerlegen die erstklassigen Darsteller mit Tempo und bissigem Witz ihre vermeintlich heile Welt; so enthüllen sie, dass ihre zwischenmenschlichen Beziehungen längst an Gedankenlosigkeit, Ängsten und selbstverständlicher Doppelmoral gescheitert sind.
Bestandsaufnahme der Gesellschaft
Laut eigenen Worten hatte Regisseurin Potter mit „The Party“ nach den britischen Parlamentswahlen im Mai 2015 und vor der Brexit-Abstimmung Ende Juni 2016 eine Art Bestandsaufnahme im Sinn: um die Unehrlichkeit der gesellschaftlichen Eliten unter die Lupe zu nehmen, die sich in einer Scheinwelt eingerichtet haben.
Demokratieverständnis, die Rolle der Banken in Turbokapitalismus und Finanzkrise oder der aktuelle Stand feministischer Theorie – all das kommt bei den Beziehungskrisen, die der Film verhandelt, gleich mit zur Sprache. Dass der Mann einer Gesundheitsministerin in spe sich als Privatpatient natürlich nicht auf die staatliche Krankenvorsorge verlässt, ist da nur der Anfang.